Absicht oder Sexunfall – Bekannter Solothurner Anwalt erstickte seine Frau
Der Tag war kaum angebrochen. Am Morgen des 28. Februar 2016, um 6.52 Uhr, alarmierte ein Solothurner Anwalt in Grand-Saconnex GE den Notarzt – seine Ehefrau sei tot. Eine Viertelstunde zuvor hatte er mit seiner Stieftochter telefoniert. Da war die Frau jedoch schon seit über 45 Minuten nicht mehr am Leben. Fiel sie einem Femizid zum Opfer – oder starb sie bei einem Sexspiel?
Fast zehn Jahre später ringt die Justiz in diesem aussergewöhnlichen Fall noch immer um eine Antwort. Aussergewöhnlich, weil der Beschuldigte eine bekannte Figur ist: Der heute 75-Jährige stammt aus einer einflussreichen Familie, sass in Verwaltungsräten mehrerer Bau- und Immobilienfirmen und leitete die Geschäftsstelle der Stiftung für die Renovation der Kaserne der Päpstlichen Schweizergarde – bis zu seinem Fall. Aussergewöhnlich aber auch, weil es so viele Wendungen gab.
Die turbulente Vorgeschichte
Bis in den Bronchien der Toten eine 4,5 Zentimeter lange Feder entdeckt wurde, gingen alle von einem natürlichen Tod aus. Während der Solothurner auch danach beteuerte, seine Frau habe im Badezimmer einen Schlaganfall oder einen Herzstillstand erlitten, kam das Genfer Kriminalgericht 2022 zum Schluss, er habe sie mit einem Kissen oder einem Duvet erstickt. Das Urteil: 13 Jahre Haft.
Kurz vor dem Berufungsprozess «lüftete» der vierfache Grossvater «sein Geheimnis»: Seine Frau sei bei einem missglückten Sexspiel ums Leben gekommen. Er habe ihren Mund und Nase zugehalten, um den Orgasmus zu intensivieren – und dies aus «Scham» niemandem gesagt.
Das Berufungsgericht hielt diese Version für plausibel und senkte die Haftstrafe auf drei Jahre. Das Bundesgericht hob dieses Urteil auf – weshalb das Genfer Berufungsgericht den Fall diese Woche erneut verhandelt.
Der Prozess wirft die Frage auf, wie die Justiz mit einer Kehrtwende des Angeklagten umgeht. «Selten hat man in der Strafjustiz einen so radikalen Sinneswandel gesehen, der zudem so spät erfolgte», sagte Staatsanwältin Anne-Laure Huber. Sie forderte am Donnerstag eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren. Huber wirft der Verteidigung vor, die «Geschichte» des Sexspiels nach dem erstinstanzlichen Schuldspruch erfunden zu haben, da sie besser zum rechtsmedizinischen Befund – dem Tod durch Ersticken – passe.
Ob wahr oder konstruiert – fest steht: Noch immer gibt es blinde Flecken, die das Bundesgericht geklärt haben will.
Wie glaubhaft ist die «Scham»?
Der angeführte Grund für das jahrelange Schweigen muss genauer untersucht werden. Die Verteidigung erklärt: In den Kreisen, in denen der wohlhabende und gläubige Mann verkehrte, spreche man nicht über Sex – schon gar nicht über extreme Praktiken.
Anwältin Yaël Hayat bedauerte die Falschaussagen zwar, betonte aber, der Angeklagte sei die einzige Person, die lügen dürfe. Beschuldigte müssen sich nicht selbst belasten. Die Staatsanwaltschaft glaubt dem Solothurner nun jedoch nichts mehr. Etwa wenn er verneint, dass die Aussicht auf eine mildere Strafe zu seiner Kehrtwende beigetragen habe.
Fehlender Husten, kein Ringen nach Luft
Für die Westschweizer Gerichtsmediziner steht fest: Wer eine 4,5 Zentimeter lange Feder verschluckt, muss husten. Und: Wer am Ersticken ist, ringt nach Luft. Es sei denn, es handle sich um Strangulation – was vorliegend nicht der Fall ist. Trotzdem gibt der Solothurner an, das Ableben seiner Frau nicht bemerkt zu haben.
«Das völlige Fehlen von Anzeichen ist nicht glaubwürdig, das haben die Experten klargemacht», sagte Staatsanwältin Huber. Die Verteidigung ihrerseits erwiderte, die Realität in der Medizin sei nicht immer so, wie man sie von den Lehrbüchern erwarte.
Die suspekten Verletzungen des Opfers
Bei der Verstorbenen sind aufgeriebene Hautstellen im Gesicht sowie Blutergüsse an den Armen dokumentiert. Dieses Gesamtbild floss laut Bundesgericht nicht ausreichend in das aufgehobene Urteil ein. Erklärungen sind also gefordert: Während der Angeklagte bisher angab, dass der Kopf der Frau unter der Decke «unbewegt» geblieben sei, erklärte er diese Woche, der ganze Körper sei in Bewegung gewesen und er habe stärker zugedrückt als bei früheren Malen. Bei den Handgelenken soll Arthrose Schuld sein.
Staatsanwältin Huber sieht die Verletzungen hingegen als Beweis, dass «das Opfer um sein Leben kämpfte.» Die einzige Alternative sei, dass das Opfer Sadistin gewesen wäre. In diesem Fall, ist Huber überzeugt, hätten Bekannte schon früher etwas bemerkt. Das Paar hat das erotische Erstickungsspiel laut Aussage des Angeklagten mehrmals praktiziert.
Die offene Frage nach dem Motiv
In einem Punkt sind sich Verteidigung und Staatsanwaltschaft einig: Ein Motiv ist nicht erkennbar. Familie und Bekannte erklärten, dass das Paar glücklich gewesen sei, die Liebe intakt. Das Bundesgericht wollte die Frage nach einem Beweggrund allerdings erneut geprüft haben.
Staatsanwältin Huber bemühte das Argument, ein Paar habe stets ein verborgenes Innenleben und Liebe sei kein Hindernis für eine Tötung. Sie musste jedoch einräumen, dass ein solches Delikt ohne bekanntes Motiv «selten» vorkomme. Ein Punkt, den die Verteidigung ausnutzte: Hinter jedem Femizid stecke ein bedrohtes Liebesverhältnis, das es hier nicht gebe, betonte Anwältin Hayat. Das Gericht wird sein Urteil nächsten Mittwoch verkünden. (aargauerzeitung.ch)