«Können uns keine Ferien mehr leisten» – das Tessin leidet unter den Krankenkassenprämien
Vier Worte genügen und Alan Molina redet sich in Rage: premio di cassa malati, Krankenkassenprämie.
Molina lässt dem noch einen Wortschwall folgen, es sind zum Gutteil Flüche. Der Gemeindearbeiter steht auf dem Dorfplatz von Grancia, einem Vorort Luganos. Grancia hat wenig mit dem Tessin-Klischee zu tun, das sich in die Köpfe vieler Deutschschweizer gebrannt hat.
Statt Palmen gibt es in Grancia Metallbau-Industrie, Ikea-Hotdogs statt Gelati und statt des sanften Plätscherns vom Lago Maggiore dröhnt die Blechlawine der A2. Grancia ist das, was Schlieren für Zürich oder Bümpliz für Bern ist.
Hier hat sich watson umgehört. Wie gehen die Menschen mit den immer stärker steigenden Prämien um?
Keinen Kanton trifft es so hart
Am Dienstag hat Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider (SP) die Krankenkassenprämien fürs nächste Jahr bekanntgegeben. Sie steigen im gesamtschweizerischen Schnitt um 4,4 Prozent auf 393.30 Franken pro Monat. Es ist der kleinste Anstieg seit 4 Jahren (2025: +6 Prozent, 2024: +8,7 Prozent, 2023: +5,2 Prozent).
So richtig darüber freuen tut sich niemand. Schon gar nicht im Tessin. Hier steigt die Prämie durchschnittlich um 7,1 Prozent an. Oder in absoluten Zahlen: Die durchschnittliche Tessinerin drückt im nächsten Jahr 501.50 Franken pro Monat für die Prämie ab. Nirgendwo sonst in der Schweiz sind die Prämien derart explodiert.
Woran das liegt? Gemeindearbeiter Molina hat eine Vermutung:
Schon im Militär habe er diese Erfahrung gemacht, sagt Molina und rupft ein Büschel Unkraut aus einem Blumenbeet. Seit drei Jahren ist er als Gärtner bei der Gemeinde angestellt. In der Deutschschweiz würde er viel mehr verdienen und müsste weniger Prämien zahlen, brummt er.
Tiefste Löhne, höchste Prämie
Ein paar Schritte vom Dorfplatz entfernt ist die Pizzeria La Voce del Mare. Das kulturelle Zentrum von Grancia. Hinter der Theke steht Aferdita Kerolli, seit sechs Jahren gehört ihr das Lokal. «Der Prämienanstieg ist für uns alle eine Katastrophe. Dabei ist die Situation in der Gastronomie schon schwierig genug», sagt Kerolli.
Die Kosovarin lebt seit Geburt im Tessin, ihre drei erwachsenen Kinder studieren und brauchen daher weiterhin finanzielle Unterstützung. Ob sie überhaupt noch Geld auf die Seite legen könne? Kerolli schüttelt den Kopf und sagt dann:
Ähnlich klingt es bei den Gästen von Kerolli. Er verstehe nicht, warum er 600 Franken monatlich zahlen müsse, wenn er nur alle 2 Jahre zum Arzt gehe, sagt Loris Camerino. Der 27-jährige Metallbauer arbeitet in Grancia. Er rechnet vor, dass er über 7000 Franken jährlich für die Krankenkasse bezahlt.
In den Gesprächen, die watson an diesem Tag führt, dringt ein Aspekt besonders stark durch: Die Tessinerinnen und Tessiner verstehen nicht, warum sie schweizweit mit die tiefsten Löhne haben – bei den Prämien aber am stärksten zur Kasse gebeten werden.
Auf Messers Schneide
Michelangelo und Lisa sind Eltern von bald dreijährigen Zwillingen. Die beiden Mädchen spielen Fangis zwischen den Stühlen und Säulen in der Einkaufspassage des Centro Commerciale, während Michelangelo sagt: «Bis jetzt ist es uns gelungen, am Ende des Monats 200 Franken auf die Seite zu legen. Ich bezweifle, dass das noch geht, wenn die Prämien jetzt nochmals steigen.»
Michelangelo arbeitet als Pflegeassistent in einem Altersheim. Lisa kümmert sich zuhause um die Zwillinge. Geld für die schönen Dinge des Lebens haben sie kaum, sagt sie:
Lisa braucht den italienischen Ausdruck vivere sul filo del rasoio. Wörtlich bedeutet das: Die Familie lebt auf Messers Schneide.
Das Tessin ist selbst Schuld – aber nicht nur
Wie konnte es im Tessin so weit kommen, dass die Prämien derart explodieren und sich Familien keine Ferien mehr leisten können?
Wenn das jemand weiss, dann ist es Igor Francetic. Er besitzt einen Doktortitel in Public Health und forscht an der Universität Lugano unter anderem zum öffentlichen Gesundheitssystem des Kantons Tessin.
Eine Antwort, die auch Tessiner Politiker gerne geben, lautet: Es leben überdurchschnittlich viele Senioren und Seniorinnen im Tessin. Da diese im Alter öfter auf medizinische Unterstützung angewiesen sind, treibt das die Prämien in die Höhe. Francetic sagt jetzt aber: Dieses Phänomen erklärt höchstens 20 Prozent der Differenz zu anderen Schweizer Kantonen, die tiefere Prämien haben.
«Ein Kanton von knapp 400'000 Einwohnern leistet sich 4 grosse Spitäler, das ist ineffizient und teuer», sagt Francetic.
Einer Tessinerin aus der Region Locarno verkaufen zu wollen, für eine Behandlung über den Ceneri nach Lugano zu müssen, grenze an politischem Selbstmord.
Auch bei den Fachpersonen herrscht ein Überangebot. Zum Beispiel ist es für italienische Physiotherapeutinnen attraktiver, sich im Tessin niederzulassen, statt in Italien zu praktizieren. Dementsprechend hoch ist das Angebot – und dieses wird von den Tessinerinnen rege genutzt. Der durchschnittliche Tessiner hat das Gesundheitssystem zwischen Juni 2024 und Juni 2025 fast 5900 Franken gekostet. Das sind über 1000 Franken mehr als der Schweizer Durchschnitt. Francetic sagt:
Francetic nimmt aber auch die nationale Politik in die Pflicht. Letzten Endes handle es sich beim Krankenkassengesetz um ein nationales. Er ist wenig optimistisch:
Zwei Initiativen
Der Handlungsbedarf, das Tessiner Gesundheitswesen zu reformieren, ist riesig. Das zeigt der Besuch in Grancia. Heute stimmen die Tessiner über zwei kantonale Initiativen ab. Die eine kommt von der SP und will die Prämie auf maximal 10 Prozent des Monatseinkommens deckeln. Hinter der anderen steckt die Lega dei Ticinesi und sie soll möglich machen, die Prämien vollumfänglich von den Steuern abziehen zu können.
Werden beide Initiativen angenommen, reisst das ein Loch von 400 Millionen Franken in die Tessiner Staatskasse. Die Kosten im Gesundheitswesen bekämpft weder die eine noch die andere.