Wie lange brauchst Du von Tür zu Tür? Wer mit Bahn, Bus oder Tram an seinen Arbeitsplatz pendelt und seinen Arbeitsweg vergleichen möchte, kennt diese Zeitangabe bestens. Sie bildet ab, wie leistungsfähig ein Verkehrsnetz ist und wie die verschiedenen Angebote aufeinander abgestimmt sind.
Nun zeigt eine Analyse der Denkfabrik Avenir Suisse, dass in den Schweizer Städten grosse Unterschiede bei den Tür-zu-Tür-Geschwindigkeiten bestehen. Für ihre Berechnungen haben die Forscher über Hunderttausend ÖV-Verbindungen auf Google Maps untersucht. Als Verbindung gilt der schnellste Weg mit dem öffentlichen Verkehr und, soweit nötig, zu Fuss von Tür zu Tür zwischen zwei Adressen.
Am schnellsten unterwegs sind Reisende in der Stadt St.Gallen. Sie kommen mit einer Transportgeschwindigkeit von über 9 Kilometer pro Stunde von A nach B. Dafür sorgt hauptsächlich die S-Bahnstrecke Winkeln-St.Fiden. Fast gleichauf liegt Biel (siehe Grafik). Die beiden Städte schneiden auch gut ab, weil Reisende kaum umsteigen müssen. In St.Gallen ist beispielsweise nur auf 1,4 Prozent der Verbindungen von 1 bis 2 Kilometern ein Umstieg nötig.
Nach Biel folgen Luzern, Zürich und Bern. Auf den hinteren Plätzen rangieren Lausanne und Genf. Genf steht mit 7,2 km/h abgeschlagen an letzter Stelle. Hier ist allerdings festzuhalten, dass die Analyse die Kapazität nicht berücksichtigt. Der ÖV in Genf mag zwar bei der Tür-zu-Tür-Geschwindigkeit etwas langsamer unterwegs sein. Dafür transportiert er in der dicht besiedelten Stadt viel mehr Menschen als anderswo.
Über alle Städte hinweg gesehen beträgt die durchschnittliche Transportgeschwindigkeit 8,3 Kilometer pro Stunde. «In vielen Fällen ist man mit Velo oder E-Trotti deutlich schneller unterwegs», halten die Studienautoren fest. Das trifft insbesondere auf kurze Strecken zu. Denn bei längeren Strecken sinken die Geh- und Warteanteile, die Geschwindigkeit einer ÖV-Verbindung nimmt zu.
Avenir Suisse betont, dass der viel gerühmte Schweizer städtische ÖV nicht so schnell ist wie oft gedacht. Mit Bus, Bahn und Tram spare man nicht einmal die Hälfte der Zeit gegenüber dem Fussweg (4,8 km/h) ein. «Und gegenüber dem Fahrrad hat er keine Chance. Da gelangt man etwa doppelt so schnell von A nach B.» Auf einen Vergleich mit dem Auto hat die Denkfabrik bewusst verzichtet, da zu viele Faktoren wie Stau, Tageszeit oder Parkplätze berücksichtigt werden müssten.
Möglich ist hingegen der Vergleich mit Deutschland und Österreich. Hier zeige sich, «dass der städtische ÖV nicht durchgehend schneller als in den Nachbarländern» sei. Zwar sind Schweizer S-Bahnen, Trams und Busse insgesamt etwas schneller unterwegs (8,3 km/h), als in Deutschland (7,85) und Österreich (7,88). Es gibt aber Unterschiede. Auf Distanzen von 10 bis 15 Kilometern sind die hiesigen Angebote sogar langsamer als in Deutschland und Österreich. «Hier ist der städtische ÖV in der Schweiz mit kaum vorhandenen S- oder U-Bahnnetzen nicht optimiert, überhaupt kommen solche Distanzen nur in 4 der 10 Schweizer Städte vor.»
Punkten können die Schweizer Städte hingegen bei der «Feinerschliessung», denn sie verfügen über ein sehr dichtes Netz. Es lohnt sich für Fussgänger, bereits ab kurzen Strecken umzusteigen, weil es sehr viele Haltestellen in der Nähe gibt. Die Kehrseite der Medaille: Je mehr Haltestellen es gibt, desto öfter wird Umsteigen nötig.
Das Zusammenspiel zwischen Netzdichte und Umsteigezeiten verdeutlicht, welche Konflikte im städtischen ÖV bestehen. Das anerkennt auch Avenir Suisse. «Die langsamen Geschwindigkeiten sind auch Ausdruck von Zielkonflikten, die im städtischen ÖV nur schwer zu überwinden sind. So verkürzt ein dichtes Haltestellennetz zwar die Gehwege, reduziert aber auch die Reisegeschwindigkeit des Verkehrsmittels.» Am besten lösen das Dilemma St.Gallen und Biel: In beiden Städte sind nur kurze Gehwege erforderlich, und man muss trotzdem vergleichsweise selten umsteigen.
Trotz dieser Erkläransätze sieht Avenir Suisse Raum für Verbesserungen. Konkrete Vorschläge, um die Zielkonflikte aufzulösen und die Geschwindigkeiten zu steigern, hat die Denkfabrik zwar nicht. Da aber der ÖV nicht einmal doppelt so schnell verkehrt wie ein Fussgänger, stellt sie doch die Frage, «ob die hierzulande relativ hohen Ausgaben für den städtischen ÖV lohnende Investitionen in ein optimales Mobilitätssystem sind.»
Einen Ansatzpunkt sieht Avenir Suisse in «smarteren Mobilitätslösungen». Gerade im städtischen Umfeld mit beengten Platzverhältnissen könnten auf der letzten Meile vermehrt Scooter, Velos oder noch nicht etablierte Fortbewegungsmittel zum Einsatz kommen.» Auch Robotaxis könnten «vielleicht» dereinst eine Rolle spielen.
Ueli Stückelberger, Direktor des Verbands VöV, kann mit den reinen Geschwindigkeitsangaben von Avenir Suisse wenig anfangen. Man müsse auch berücksichtigen, dass der öffentliche Verkehr in den Städten dazu da sei, um grosse Menschenmengen effizient und auf wenig Raum zu transportieren. Das sei mit (Elektro)autos, Velos oder E-Trottis schlicht nicht möglich, ohne dass die Strassen verstopft würden. «Und an einem schneereichen Wintertag ist zu bezweifeln, dass die Velo- und Trottifahrer rascher an ihr Ziel gelangen.»
Dennoch findet es auch Stückelberger wichtig, die Geschwindigkeit des öffentlichen Verkehrs im Auge zu behalten. Denn die Städte setzen immer öfter auf reine Tempo-30-Zonen, die auch die Busse ausbremsen. «Der VöV ist nicht pauschal gegen Tempo 30. Es ist aber zentral, dass der ÖV eigene Spuren befahren kann und an den Lichtsignalen bevorzugt wird.» Dies werde beispielsweise in Bern konsequent umgesetzt. Der Verband befindet sich mit mehreren Städten im engen Austausch. «Der ÖV darf nicht im Stau stehen», fordert Stückelberger.