An einem Novemberabend im Jahr 1995 gleitet ein BMW durch die Dunkelheit des Genfer Vororts Petit-Saconnex. Am Steuer sitzt Alaa El Din Nazmi, ein hochrangiger Diplomat der ägyptischen Mission in Genf. Er ist 42 Jahre alt und Vater einer vier Monate alten Tochter. Er ist auf dem Heimweg zu seiner Familie. Um 21.30 Uhr rollt er in die Tiefgarage seines Wohnblocks. Er verlässt das Auto und geht mit seiner Aktentasche zum Lift.
Plötzlich fallen drei Schüsse. Ein Mann hat draussen auf ihn gewartet und ist dem BMW zu Fuss gefolgt. Mit einer halbautomatischen Pistole schiesst er ihm in Brust und Bauch. Ein selbst gebastelter Schalldämpfer aus gelbem Schaumstoff reduziert den Lärm im Parkhaus. Das Opfer bricht zusammen.
Der Täter kommt näher und hält seine Pistole etwa 20 Zentimeter vor die Brust des Diplomaten und drückt nochmals dreimal ab – diesmal ohne Schalldämpfer. Nazmi stirbt auf dem Boden seiner Tiefgarage. Der Täter stiehlt sein Portemonnaie und seine Aktentasche und verschwindet.
Zwei Tage nach der Tat geht auf einer westlichen Nachrichtenagentur in Kairo ein Fax ein. Eine islamistische Organisation namens Gamaa bekennt sich zum Mord. Damals ist sie noch unbekannt. Zwei Jahre später verüben Terroristen unter diesem Namen das Attentat von Luxor, bei dem 36 Schweizer sterben.
Zur Tat in Genf geben die Islamisten folgende Erklärung ab: Der Diplomat habe undercover für den ägyptischen Geheimdienst gearbeitet und Mitglieder der Muslimbrüder, einer islamistischen Bewegung, in Europa verfolgt. Tatsächlich soll der Diplomat gemäss Medienberichten zumindest den Auftrag gehabt haben, die Geldflüsse der Muslimbrüder in Europa zu untersuchen. Dabei soll er den Ramadan-Clan in Genf überwacht haben.
Dazu muss man wissen: Der Ägypter Said Ramadan war einer der führenden Aktivisten der Muslimbrüder und gründete mit Geldern der Organisation das Islamische Zentrum Genf, das auch als die kleine Moschee der Stadt bezeichnet wird. Er soll einen Teil der «Kriegskasse» der Muslimbrüder verwaltet haben. Er ist der Vater von Tariq Ramadan, einem umstrittenen Islamwissenschafter.
Nach der Tat in der Tiefgarage erklärt die damalige Bundesanwältin Carla Del Ponte den Fall zur Chefsache. Sie nimmt die Hinweise auf den politischen Hintergrund des Verbrechens ernst. Eine Woche später durchsucht die Polizei das Islamische Zentrum in Genf. Doch die Ermittlungen enden wie viele Fälle aus Del Pontes Amtszeit. Auf grosse Ankündigungen folgen kleine Resultate.
Die wichtigste Spur, welche die Polizei am Tatort findet, ist der Schalldämpfer, 25 Zentimeter lang, mit zwei braunen Klebestreifen. Eine Materialanalyse ergibt, dass der Schaumstoff aus der Kopfstütze eines Autos stammt.
Auf dem Klebestreifen stellt die Rechtsmedizin einen Fingerabdruck sicher. Die Bundespolizei lässt diesen über Interpol mit 68 Ländern abgleichen – ohne Treffer.
2004 kann die Polizei dank technischer Fortschritte bei der DNA-Analyse vier genetische Profile auf dem Schalldämpfer feststellen: drei stammen von Männern, ein Profil ist weiblich. Doch auch hier führen Abgleiche zu keinen Resultaten.
2009 sistiert die Bundesanwaltschaft das Verfahren deshalb. Damit ruhen die Ermittlungen, bis neue Erkenntnisse auftauchen. Normalerweise versandet ein Verfahren dann.
Doch der technische Fortschritt führt 2018 zu neuen Erkenntnissen. Die Bundespolizei hat ein neues System für die Identifizierung von Fingerabdrücken in Betrieb genommen. Verbesserte Algorithmen können nun auch Spuren abgleichen, die vorher unverwertbar waren. Die Bundespolizei überprüft deshalb alle bisher ungelösten Fälle nochmals.
Zum Fall aus Genf liefert das System jetzt einen Treffer: Der Fingerabdruck stammt vom linken Daumen eines heute 55-jährigen Mannes, der in Frankreich wohnt und aus der Elfenbeinküste stammt. Sein Spitzname ist Momo. Zur Tatzeit war er 26 Jahre alt. Er ist Autohändler und exportiert Fahrzeuge in seine Heimat. Von ihm stammen auch zwei der drei DNA-Profile.
In den Polizeidatenbanken ist er erfasst, weil er schon zahlreiche Straftaten begangen hat, vor allem Eigentumsdelikte. Ein weibliches DNA-Profil kann die Polizei zudem seiner damaligen Freundin zuordnen. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass die beiden zusammen den Schalldämpfer hergestellt haben und er die Tat ausgeführt hat. Das dritte männliche DNA-Profil können die Ermittler nicht identifizieren.
Ein Jahr vor der Verjährung beginnt nun am Montag vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona der Prozess gegen Momo und seine Ex-Freundin. Ende Januar soll das Urteil fallen.
Die Bundesanwaltschaft führt das Verfahren intern unter der Bezeichnung Diplodocus. Der Begriff klingt ähnlich wie Diplomat und steht für einen Dinosaurier, der anhand des Skelettes als besonders einfach identifizierbar gilt.
Die Anklage hat im Fall Diplodocus jedoch Beweisschwierigkeiten. Um Momo einen Mord nachzuweisen, stützt sie sich auf fünf Indizien.
Im Oktober 2018 lässt die Strafverfolgungsbehörde Momo verhaften und lanciert umstrittene Überwachungsaktionen. Ein Undercover-Polizist übergibt ihm im Gefängnis ein Handy. So erfährt die Polizei, wie Momo aus der Haft dem Bruder seines Jugendfreundes eine SMS schreibt. Er warnt diesen, wegen den Ereignissen von 1995 nicht nach Genf zu kommen, sonst wäre er selber «am Arsch».
Bei einer Hafteinvernahme belauscht ein Polizist zudem ein Gespräch zwischen Momo und seinem Anwalt im Gerichtsgang. Demnach soll Momo gesagt haben: «Die Technik hat mich erwischt.»
Doch Momo bestreitet alles. Die DNA-Spuren seien verwischt und würden höchstens zeigen, dass er das Klebeband und seine damalige Freundin berührt haben könnte. Diese gibt an, ihre Spuren seien wohl durch irgendeine Übertragung auf den Schaumstoff geraten. Widersprüche in seinen Aussagen erklärt er mit seiner Kultur und seiner Persönlichkeit.
Ein Gutachter schätzt ihn anders ein. Er attestiert ihm manipulative Fähigkeiten und diagnostiziert ihm eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit psychopathischen Zügen. Damit erklärt der Psychiater auch die mutmassliche Tat: «Die emotionale Dysfunktion des Psychopathen kann es für ihn einfacher machen, jemanden zu töten.»
Nach 18 Monaten Untersuchungshaft stellt das Bundesgericht im Jahr 2020 jedoch fest, dass sich der Verdacht in dieser Zeit hätte verdichten müssen. Stattdessen sei der Verdacht derselbe wie am Anfang. Das höchste Gericht schreibt in diesem Zwischenentscheid: «Die Umstände des untersuchten Mordes sind weit weg von definitiv geklärt.» Deshalb muss ihn die Bundesanwaltschaft im Mai 2020 aus der Haft entlassen.
Momo hätte sich nun unauffällig verhalten können, und er wäre vielleicht davongekommen. Doch er geht zurück zu seiner Partnerin, mit der er vor der Haft eine toxische Beziehung geführt hat und behandelt sie nun noch schlechter. Sie zeigt ihn deswegen wegen mehrfacher Vergewaltigung an. Gleichzeitig erhebt ein Mann Anzeige wegen einer Drohung. Momo soll ihn geschlagen und danach gesagt haben: «Das nächste Mal töte ich euch wie die anderen.»
Seit Dezember 2021 sitzt Momo deshalb wieder in Haft. Er bestreitet die meisten Vorwürfe, doch diesmal sind die Indizien dichter. Zu den Übergriffen liegen Krankenakten, Fotos von Verletzungen und Zeugenaussagen vor. Die Chance für eine Verurteilung in Nebenpunkten ist damit gestiegen.
Die wichtigste Frage bleibt allerdings ungelöst: Wer gab den Mord in Auftrag? Die Bundesanwaltschaft präsentiert dem Gericht zwar einen möglichen Täter, aber kein Motiv. Die ägyptischen Geldflüsse um die Tat bleiben ein Geheimnis.