Trotz Schnee legt sich der Fotograf mit dem ganzen Körper auf den Boden. Er will das perfekte Foto von der Wisent-Herde schiessen, die sich nur etwa zwanzig Meter vor ihm befindet. Die Wisent-Kühe und ihre Rinder schauen ob seiner Bewegung nur kurz auf. Dann fressen sie gemütlich weiter.
Der Wisent-Stier aber frisst nicht. Stattdessen fixiert er den Fotografen mit seinem Blick. Und plötzlich galoppiert er direkt auf den Mann zu. Nicht so schnell, wie er könnte, aber laut. Unter seinen Hufen stäubt der Schnee davon.
Wenige Zentimeter vor dem potenziellen Störenfried hält er an. Er baut sich auf, schnaubt, so dass sein heisser Atem wie eine Krone um seinen Kopf wirbelt, und starrt den Mann an. Direkt in die Linse. Eine Drohgebärde.
«Wow, das gibt wunderbare Fotos», ruft der Fotograf begeistert. Neben dem fast zwei Meter grossen, buckeligen Büffel sieht er ganz klein aus. Dass der Mann so ruhig bleibt, liegt am Zaun, der ihn und den Bullen trennt. Es sind drei Drähte, die unter Strom stehen.
Was wäre, wenn da kein Zaun stünde? «Vermutlich wäre gar nichts. Aber man sollte es nicht darauf ankommen lassen», sagt Benjamin Brunner. Er ist Landwirt und einer der beiden Grundeigentümer, des 51 Hektar grossen Geheges im Solothurner Jura, das die Wisente im September 2022 bezogen haben.
Damit kehrte die Tierart in ihre Heimat zurück. Der Mensch rottete den Wisent vor 1000 Jahren auf dem Gebiet der heutigen Schweiz aus. Der Verein «Wisent im Thal» will auf Brunners Wiese und Waldstück während zehn Jahren testen, ob Wisente hierzulande eines Tages wieder in freier Wildbahn leben könnten.
Das Projekt findet es wichtig, dass sich Bevölkerung und Wisente kennenlernen können. Besuchende dürfen das Gehege darum rund um die Uhr gratis, aber auf eigene Verantwortung betreten. Egal, ob mit Hund oder Kinderwagen, ob zu Fuss oder auf dem Velo.
Regeln gibt es nur wenige: auf dem Weg bleiben, Hunde an der Leine führen, 50 Meter Abstand zu den Wisenten halten, die Tiere respektieren und nicht provozieren.
Trotzdem beobachtet Brunner immer wieder unglaubliche Szenen. Eine davon hat er mit seiner Handykamera festgehalten. Das Foto, aufgenommen diesen Sommer, zeigt einen Mann, der einem Wisent seine Kamera inklusive langem Objektiv mitten ins Gesicht hält. Zwischen ihnen steht kein Zaun, nur ein Abstand von knapp einem Meter. Rund um die beiden grast ebenfalls im Umkreis weniger Meter die ganze Herde. Der Wisent schaut ruhig und neugierig in die Linse.
«Es gibt auch immer wieder Leute, die versuchen, die Wisente zu streicheln», sagt Brunner. Das sei keine gute Idee. Denn genau wie Kühe sind Wisent-Mütter bereit, ihre Jungen zu verteidigen. Im Juli hat die Herde doppelten Nachwuchs bekommen.
Brunner muss bei solchen Szenen einschreiten. Alles kann aber auch er nicht mitbekommen. Umso mehr beeindruckt, dass auf der Sollmatt noch kein Wisent einen Menschen angegriffen hat. Auch keinen Hund. Noch zu überhaupt keinem gefährlichen Zwischenfall ist es gekommen. Brunner sagt:
Die Tiere seien scheu, aber keine Fluchttiere. Hätten ein neugieriges, aber sanftes Wesen. Der Bulle stellt das an diesem Tag gleich unter Beweis. Nach seiner Drohgebärde verliert er nach wenigen Minuten das Interesse am Fotografen und zieht ruhig am Zaun entlang Richtung Hügel. Weg von den Menschen.
Nach kurzer Zeit folgt ihm der Rest der Herde.
Nun sind die Tiere genug weit weg, um das Gehege betreten zu können. Zusammen mit Brunner und Otto Holzgang, Biologe und Leiter des Projekts Wisent Thal. Nach eineinhalb Jahren Wisente im Kanton Solothurn bilanziert er: «Die Tiere fühlen sich wohl. Sie kommen gut in der Landschaft und mit den Menschen klar.»
Während der zehn Jahre, die die Testherde auf der Sollmatt verbringt, widmet er sich darum einer ganz anderen Frage:
Würde man diese Frage den Solothurner Bauern und Jägern stellen, käme zwei Mal die Antwort: Nein. Denn noch bevor die Wisente auf der Sollmatt einzogen, regte sich unter ihnen Widerstand gegen das Projekt.
Der Solothurner Bauernverband liess verlauten: Man könne sich nicht vorstellen, ein weiteres «exotisches» Wildtier ertragen zu müssen – noch dazu in dieser Grösse. Die Kulturlandschaft leide schon genug unter den Schäden durch Wildschweine und vor allem Wölfe.
Die Jäger sorgen sich indes um die Wildtiere, die wegen des Elektrozauns und der Touristen aus dem Gebiet vertrieben werden könnten. Und dass die Jagd durch das abgesperrte Gehege erschwert wird.
Der Widerstand ging so weit, dass sich die Wisent-Gegner zur Interessensgemeinschaft «Wisentansiedlung Nein» zusammenschlossen und mit einer Beschwerde gegen das Projekt Wisent Thal bis vor das Bundesgericht zogen. Wo sie abblitzten.
Ihre Haltung aber blieb: Der Wisent sei für die Schweiz nicht tragbar. «Weder für Wald, Weide, Feld und Acker noch für die Natur und schon gar nicht für die Gesellschaft.»
Heute, zwei Jahre nach dem Urteil, kann Biologe Holzgang den Jägern zumindest eine Sorge nehmen. Die Wildtiere auf der Sollmatt verschwanden nicht. Im Gegenteil. An einem gewöhnlichen Wintertag finden sich im Gehege im Schnee Fussspuren, die wahrscheinlich einem Dachs gehören.
Mehrere Fotofallen dokumentieren zudem ein reges Treiben der Wildtiere im Gehege. Weder Zaun noch Wisent halten Rehe, Hirsche, Füchse, Wildschweine und sogar Luchse vom Waldstück fern. Und Brunner hat eine weitere erfreuliche Nachricht:
Die Natur kommt also klar mit den Wisenten. Bleibt nur noch der Mensch. Und für ihn eruiert Biologe Holzgang das Schadenspotenzial des Wisents. Also: Wo, wie und wie stark er uns in die Quere kommen könnte.
Gefunden ist ein solcher potenzieller Schaden schon nach wenigen Schritten im Wald. Bei zahlreichen Bäumen fehlt auf Mundhöhe der Wisente die Rinde. Sie haben sie mit ihren Zähnen abgeschabt und gefressen. Besonders Ahorn scheinen die reinen Pflanzenfresser zu mögen.
«Es ist gut möglich, dass der eine oder andere Baum deshalb in den nächsten Jahren absterben wird. Das werden wir jetzt beobachten», sagt Holzgang. Für Landwirte, die vom Holzverkauf leben, möge das eine schlechte Nachricht sein. Für die Natur sei das jedoch kein Problem. Im Gegenteil:
Das sei ein Gewinn für die Schweizer Biodiversität. Einerseits, weil mehr Licht bis zum Waldboden einfallen könne, was Gräser, Kräuter und Sträucher fördere. Andererseits, weil zahlreiche Insekten und Pilzarten auf Totholz angewiesen seien.
Die Wisente könnten damit sogar eine Aufgabe übernehmen, die Förster derzeit ohnehin von Hand vornehmen, wenn sie «ringeln». Das heisst: Wenn sie gezielt bei gewissen Bäumen rundherum die Rinde abschälen, damit diese langsam absterben und neuen Lebensraum schaffen.
Im Umkreis von zehn Quadratmetern finden sich auf der Sollmatt gleich mehrere geschälte Bäume. Würden die Wisente in freier Wildbahn leben, würde man solche Stellen im Wald aber nicht ständig sehen, erklärt Holzgang. Wisente seien Nomaden, streiften durch weit grössere Gebiete als ihr jetziges Gehege. «Ihr Einfluss ist hier darum 20-mal stärker sichtbar.»
Was Holzgang inzwischen ebenfalls festgestellt hat: Die Herde hält sich am liebsten am Waldrand auf. Da, wo die Wiese über Gebüsche in Wald übergeht. Hier findet sie das ganze Jahr über Futter.
Auch darin sieht Holzgang einen Mehrwert für die Schweizer Natur: Gestufte und reich strukturierte Waldränder seien ein wichtiger Lebensraum für viele Pflanzen- und Tierarten. Rund drei Viertel der Waldränder in der Schweiz seien aus ökologischen Gesichtspunkten ungenügend. «Wisente könnten unsere Waldränder ökologisch aufwerten.»
Holzgang spricht aus all diesen Gründen lieber von «Einflüssen», die der Wisent auf den Wald hat, statt von Schäden, die er verursacht. Bei der Landwirtschaft funktioniert diese Sichtweise allerdings nicht mehr.
Was, wenn wilde Wisente künftig ganze Kuhweiden leerfressen, Äcker zertrampeln, Ernten zerstören? Auf diese Fragen gibt es noch keine Antwort. Doch Holzgang geht ihnen nach. Jedes Jahr ein bisschen mehr.
Diesen Frühling wird Landwirt Benjamin Brunner im Gehege etwa einen Acker anlegen und Mais anpflanzen. Einen Teil des Feldes wird er mit einem herkömmlichen Schutzzaun, den Bauern bereits heute gegen Wildschweine einsetzen, einzäunen. Den anderen Teil wird er ungeschützt lassen. Zum Vergleich.
Der Ausgang dieser Experimente ist noch völlig offen, wird aber massgeblich darüber entscheiden, ob in Schweizer Wäldern eines Tages wieder wilde Wisente streifen werden.
Die Wisent-Gegner werden die Versuche darum mit Argusaugen aus der Ferne beobachten. Besonders Bauern fürchten sich nun, wo selbst SVP-Bundesrat Albert Rösti Schwierigkeiten hat, härter gegen die geschützten Wölfe vorzugehen, vor der Blackbox Wisent.
Wer Pferde mit Rehen verwechselt… naja.