Das Erdbeben in der Türkei und in Syrien hat die Welt erschüttert: Mehr als 20'000 Tote bisher und die Opferzahl steigt weiter. In dramatischen Videos ist zu sehen, wie ganze Gebäude in einer Staubwolke zusammenbrechen.
Wie steht es mit der Erdbebengefahr in der Schweiz? Die Regionen um Basel, aber auch das Wallis sind seit jeher als erdbebengefährdet bekannt. Laut dem schweizerischen Erdbebendienst ereigneten sich von den zehn stärksten Erdbeben in der Schweiz fünf im Wallis.
Anne Sauron ist Seismologin und Professorin an der Fachhochschule Wallis. Sie beantwortet unsere Fragen, um mehr Klarheit zu schaffen.
Frau Sauron, wie hoch ist das Erdbebenrisiko in der Schweiz derzeit?
Anne Sauron: Mässig hoch. An manchen Orten ist es stärker, besonders im Wallis. Die Region Basel ist ebenfalls betroffen, aber laut dem Schweizerischen Erdbebendienst ist die Erdbebengefährdung, also die theoretische durchschnittliche Dauer zwischen zwei Erdbeben, im Wallis viel kürzer. Alle 70 bis 100 Jahre ereignet sich im Kanton ein schweres Erdbeben, das letzte fand 1946 statt, also vor 77 Jahren. Das nächste Erdbeben kann jederzeit stattfinden
Wie stark wäre das Erdbeben?
Maximal zwischen 6 und 6,5 auf der Richterskala. Das ist zwar viel weniger als in der Türkei und in Syrien (7,8), aber es handelt sich dennoch um ein zerstörerisches Erdbeben. Theoretisch könnte man ein solches Beben mit dem Erdbeben vergleichen, das 2016 die Gemeinde Amatrice in Italien erschütterte und immerhin fast 300 Todesopfer forderte.
In der Türkei gibt es mehrere grosse seismische Verwerfungen, die für das wiederholte Auftreten von Erdbeben verantwortlich sind. Wie sieht es im Wallis aus?
In den Alpen sind die tektonischen Platten kleiner. Zahlreiche Verwerfungen durchziehen den Kanton, sind aber viel kleiner als die Verwerfungen, die es in der Türkei gibt. Da die Stärke eines Erdbebens mit der Grösse der Verwerfungen zusammenhängt, wäre ein Erdbeben im Wallis viel schwächer. Die meisten dieser Verwerfungen sind an der Oberfläche nicht sichtbar und schwer zu überwachen. Zum Vergleich: Die San-Andreas-Verwerfung in Kalifornien verläuft nahe der Oberfläche und kann ständig überwacht werden.
Welche Rolle spielt die Infrastruktur des Kantons?
Sie ist von entscheidender Bedeutung. Nehmen wir die Türkei und Japan, zwei Orte auf der Welt, die eine besonders hohe Erdbebengefährdung aufweisen. Japan, das in Bezug auf die Normen für erdbebensicheres Bauen an der Spitze der Technologie steht, baut Gebäude und Infrastrukturen, die Erdbeben bis zu einer Magnitude von über 8 aushalten können. In der Türkei ist dies keineswegs der Fall, und wie wir gesehen haben, ist ein Grossteil der Gebäude sehr anfällig für Bodenbewegungen. Die Situation der Bauten im Wallis liegt irgendwo zwischen diesen beiden Fällen. Im Vergleich zum Rest des Landes schneidet der Kanton gut ab: Neue Gebäude müssen seit 2004 den strengen Erdbebennormen entsprechen, renovierte Gebäude müssen an diese Normen angepasst werden. Der Kanton sorgt dafür, dass der Gebäudebestand angepasst werden muss. Aber ein Teil der bestehenden Gebäude würde einem starken Erdbeben nicht standhalten. Bis alles renoviert ist, kann zwischenzeitlich bereits ein weiteres grosses Erdbeben stattgefunden haben.
Wie kann sich der Kanton darauf vorbereiten?
Zunächst einmal muss man die Gebäude bewerten lassen und dafür sorgen, dass alle den erdbebensicheren Standards entsprechen, und zwar so schnell wie möglich. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass diese Bemühungen langfristig aufrechterhalten werden. Parallel dazu ist es von grundlegender Bedeutung, die Bevölkerung vorzubereiten und über die Risiken zu informieren. Mit dieser Vision hat die Fachhochschule Wallis mit Hilfe des Staates das Pädagogische Zentrum für Erdbebenprävention sowie einen Erdbebensimulator geschaffen. Jeder Walliser Schüler durchläuft es mindestens einmal während seiner Schulzeit. Ich ermutige alle Einwohner des Kantons, es auszuprobieren. Dies ist der zweite Teil von drei Präventionsmodulen, in denen erklärt wird, wie man sich auf ein Erdbeben vorbereiten kann, wie man reagieren sollte, wenn es stattfindet, und was man als Erstes tun sollte, wenn das Erdbeben vorbei ist.
Seit 1946 wurden im Wallis zahlreiche Staudämme gebaut. Besteht die Gefahr, dass einer der Dämme bricht oder Risse bekommt?
Ich glaube nicht. Die Infrastruktur steht unter ständiger Überwachung und die Dämme im ganzen Land wurden konsolidiert und verstärkt, um Erdbeben standhalten zu können. Es gibt jedoch ein Katastrophenszenario: Wenn der Staudamm voll ist und ein Stück Berg abbricht und in das Reservoir fällt, was eine Riesenwelle weiter unten auslöst. Dies geschah 1963 bei der Vajont-Staudammkatastrophe in Italien, bei der 1900 Menschen ums Leben kamen.