In der «Arena» von SRF fallen sich die Parteienvertreter lautstark ins Wort. Auf Twitter zünden sich Politikerinnen mit Vorwürfen gegenseitig an. Und in Medienmitteilungen wird dem politischen Gegner Landesverrat oder Gesetzesbruch vorgeworfen. Die Schweizer Politik, so entsteht manchmal der Eindruck, ist ein Haifischbecken, ein Dschungel, ist Kampfzone.
Bloss: Dieser Eindruck täuscht. Abseits des Rampenlichts ist der Umgangston sehr viel kameradschaftlicher. Beginnt in Bern eine der vier jährlichen Sessionen des Parlaments, herrscht eine freudig-aufgeregte Stimmung. Im Bundeshaus wird begrüsst, umarmt, gescherzt, gelacht – über Parteigrenzen hinweg. Fast wie am ersten Tag eines Pfadilagers.
Ein solches, das grösste in der Geschichte der Schweiz, findet aktuell im Goms auf einer Fläche von 170 Fussballfeldern statt. 30'000 Menschen sind beim Bundeslager (Bula) gleichzeitig «auf Platz». 600 Lastwagen voller Lebensmittel schickt die Verpflegungspartnerin Migros, einer von drei Hauptsponsoren, während der zwei Lagerwochen ins Bula. 120 Angehörige der Armee helfen aus. Es ist eine Schweiz im Kleinen, umgeben von majestätischen Bergen.
Am Donnerstag hat diese kleine Schweiz hohen Besuch erhalten. Mitglieder von National- und Ständerat besichtigten im Rahmen des VIP-Besuchsnachmittags das Bula. Besonders fest darauf gefreut hat sich SVP-Nationalrat Mauro Tuena. Auf der Hinfahrt im Zug erzählt der Zürcher, weshalb die Pfadi einen speziellen Platz in seinem Herzen hat. Bei Tuena wurde im Alter von sechs Jahren Diabetes festgestellt. Heute lässt sich der Blutzuckerspiegel mit einem Sensor am Arm per App kontrollieren und das Insulin selber mit einer Pen-Spritze zuführen, die so einfach zu bedienen ist wie ein Kugelschreiber. «In meiner Kindheit war das viel komplizierter», sagt Tuena. Er durfte deshalb nicht mit ins Klassenlager fahren. Zu gross war den Lehrpersonen das Risiko.
Doch bei der Pfadi gab es Sommerlager, an denen er dank der Betreuung durch Fachpersonen teilnehmen durfte. Tuena erzählt:
Tuena ist beeindruckt von der makellosen Organisation des Bula. Nach der Führung durch das Lagergelände schaut der Präsident der Sicherheitspolitischen Kommission (SiK) noch bei den Armeeangehörigen vorbei und bedankt sich für ihren Einsatz «Das gehört sich so», sagt Tuena, Pfadiname Marabu.
Die Aargauer FDP-Nationalrätin Maja Riniker (v/o Wuschel) ist mit Ehemann Florian angereist. Ihre drei Kinder sind allesamt am Bula: «Es ist toll, dass wir sie heute besuchen können.» Sie selber hat in der Pfadi neben Feuermachen, Kartenlesen, Zeltaufbau und Knotentechnik auch für die Politik gelernt: «Dass man zusammenarbeiten und Rücksicht nehmen muss und dass es Leader braucht.»
Auch die ältere Tochter von Corina Gredig ist im Bula. Die Zürcher GLP-Nationalrätin spricht angesichts der raffinierten Ingenieurskunst bei den Lagerbauten und des ökologischen Transportsystems aus Velos und Anhängern von einer «grünliberalen Traumwelt». Während der Führung sagt sie zu ihrem Zürcher Ratskollegen Tuena: «Es ist doch gar nicht so schlimm mit wenig Autos, Mauro.»
Als zwei F/A-18 der Luftwaffe hoch am Himmel übers Tal donnern, stellt Tuena zufrieden fest, die Flugabwehr funktioniere noch. «Aber nur während der Bürozeiten», kontert Grünen-Ständerätin Maya Graf (BL). Sie selber habe als Kind in die Pfadi gewollt, aber als Bauerntochter nicht gedurft: «Du hast jeden Tag Pfadi bei uns zu Hause, hat mein Vater gesagt.» Heute ist sie Stiftungsrätin der Pfadistiftung. Ihr gefallen die Werte hinter der Bewegung. Ein Pfadilager sei mehr als eine Freizeitbeschäftigung, sagt Graf:
Bei der Pfadi seien alle willkommen, es gebe keinen Leistungsdruck, keine Gewinner und keine Verlierer.
Beim Apéro zum Abschluss des VIP-Nachmittags nabelt sich der hohe Besuch wieder von der kleinen Schweiz ab. Eintritt gibt es nur mit goldenem Badge. Nebst Bundesparlamentarierinnen sind auch Wirtschafts- und Verbandsvertreter da. Das Bier kommt von der Einsiedler Brauerei von Mitte-Nationalrat Alois Gmür (v/o Spund), dem Präsidenten der Pfadistiftung. Das schöne Wetter trägt zur parteiübergreifend gelösten Stimmung bei. Wäre Politik doch immer wie ein Pfadilager. Spätestens nächstes Jahr ist es damit vorbei. Im Oktober 2023 sind Wahlen. Es wird Gewinner geben – und Verlierer. (aargauerzeitung.ch)