Wasserfälle, die man an- und abschalten kann? Ja, das gibt es. In der Schweiz ist das bekannteste Beispiel der Schreyenbachfall. Wobei: Wenn wir es genau nehmen, wird er nie ganz abgestellt, sondern es wird ihm einfach sehr viel Wasser entnommen. Normalerweise ist er daher nicht viel mehr als ein kümmerliches Rinnsal.
Dabei war der Schreyenbachfall bis 1964 eine schweizweit bekannte Naturattraktion. Rund 100 Meter stürzte sich hier der Fisetenbach über den Fels ins Tal und wenig später in die Linth. Der Bach, der seine Quelle im Kanton Uri hat, führte dabei oft grosse Wassermassen, so, dass der Fall sehr spektakulär wirkte.
Doch die Schweiz lechzte nach Energie. Und die Wasserkraft ist bekanntlich beliebt. Heute werden rund 60 Prozent der Schweizer Wasserfälle für die Erzeugung von Energie genutzt. Einige sind gar für immer verstummt, so wie der Pfaffensprung bei Wassen im Kanton Uri. Anderen, wie dem Handeckfall im Grimselgebiet, wurde praktisch alles Wasser abgegraben.
Ähnliches passierte auch mit dem Schreyenbachfall im Glarnerland. Der Landrat erteilte 1957 die Konzession für das Kraftwerk Linth-Limmern. Dieses nutzte das Wasser des Fisetenbachs, der den Schreyenbachfall speist, für die Stromproduktion und leitete dieses – bis auf wenig Restwasser – durch Stollen weg vom Wasserfall.
Damit war das Schicksal des so beeindruckenden Falls eigentlich besiegelt. Der Schreyenbachfall verstummte bei der Inbetriebnahme des Kraftwerks 1964 praktisch ganz.
Es gab allerdings einen Hoffnungsschimmer. Denn ein Regierungsrat gab bei der Konzessionserteilung «die Zusicherung, dass der Wasserfall im annehmbaren Rahmen erhalten bleibe». Was damals niemand ahnte: Es sollte 51 Jahre dauern, bis das Versprechen eingelöst wurde.
Der WWF legte 2003 Einsprache ein. 2004 kam es zu einem Vergleich zwischen dem WWF Glarus und der Kraftwerke Linth-Limmern AG. Dieser ergab, dass der legendäre Wasserfall im Tierfehd im Sommer während 22 Tagen wieder in voller Pracht zu bestaunen sein müsse.
2008 – 51 Jahre nach dem Versprechen – wurde diese Abmachung erstmals angewendet. Endlich stob und rauschte das Wasser wieder über die Felskante, wie es früher immer der Fall war.
Es kam gar noch besser: Mit der Realisierung des Projekts Linthal 2015 wurde die «Einschaltdauer» auf 45 Tage erhöht. Seither wird das Wasser des Fisetenbachs im Sommer (normalerweise) vom 18. Juni bis 2. August vollständig ausgeleitet und der Schreyenbach erhält für diese Tage seine ursprüngliche Macht zurück.
Das freut dann jeweils nicht nur Touristen, sondern es profitiert auch die Tier- und Pflanzenwelt, wenn alles Wasser wieder durch das Bachbett fliesst.
Wird der Wasserfall eingeschaltet, kommen die Wassermassen flutwellenartig über die Felsen. Darum unbedingt an die Anweisungen des Sperrpersonals halten und sowieso genügend Abstand nehmen. Denn es ist häufig so, dass in den ersten Minuten Steine und Äste aus dem Bachbett mitgeschwemmt und aus dem Wasserfall katapultiert werden.
Wer das Schauspiel des Schreyenbachfalls selbst erleben will: Dieser ist gut sichtbar von der Strasse zum Tierfehd. Es führt auch ein kurzer Wanderweg von der Talstation der Kalktrittli-Seilbahn an den Fuss des Falls.
Und übrigens: Rund 1,5 Kilometer weiter südlich, zwischen der Linthschlucht und der Seilbahn, fällt der Wildwüestibach über noch mehr Meter in die Tiefe. Dieser ist nicht so gut zugänglich, aber auch er wird normalerweise Stunden vor dem Schreyenbachfall «eingeschaltet», indem seine Fassung geöffnet wird.
Den besten Blick darauf hast du vom Hotel Tödi bei der Talstation oder auf der kurzen – aber steilen – Wanderung zur Pantenbrücke, die an einer engen Stelle hoch über die Linth führt.
Wenn du doch noch ein bisschen mehr unternehmen willst: