Schweiz
Was ich wirklich denke

SBB: Kondukteur erzählt, welche Reisenden die schlimmsten Kunden sind

Kontrolleur
Bild: montage: watson/keystone/shutterstock
Was ich wirklich denke

Ein SBB-Kondukteur erzählt, warum die Schweizer zu dumm für Sparbillette sind

24.01.2020, 09:2017.12.2020, 16:32
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Was ist «Was ich wirklich denke»?
Wir gestehen: Bei der Idee für «Was ich wirklich denke» haben wir uns schamlos beim «Guardian»-Blog «What I'm really thinking» bedient. Wir mussten fast, denn die Idee dahinter passt wie die Faust aufs Auge auf unseren alten Claim «news unfucked». Es geht darum, Menschen, Experten, Betroffene anonym zu einem Thema zu Wort kommen zu lassen, ohne dass diese dabei Repressalien befürchten müssen. Roh und ungefiltert. Und wenn du dich selber als Betroffener zu einem bestimmten Thema äussern willst, dann melde dich bitte unter wasichdenke@watson.ch.

Die Namen unserer Gesprächspartner sind frei erfunden.
  • Dominik fährt seit acht Jahren als SBB-Kondukteur kreuz und quer durch die Schweiz, ausser ins Tessin.
  • Dominik bezeichnet Passagiere schon mal als «Idiot». Meistens aber nur in Gedanken.
  • Dominik nennt den Bombardier-Pannenzug «Bombe», den ICE «Weisswurst».

Meine Name ist Dominik. Ich bin Kondukteur bei den SBB. Ja, ich sage immer noch Kondukteur, auch wenn das die SBB nicht gerne hören. Einmal war unsere Bezeichnung Reisezugbegleiter, aktuell lautet sie Kundenbegleiter. Diese Begriffe versteht jedoch kein Mensch.

Was mich momentan wirklich nervt, sind nicht die Verspätungen und Zugsausfälle (2019 war wirklich ein katastrophales Jahr). Nicht die immer mehr Reisenden, die per Facetime-Video telefonieren. Direkt im Abteil. Mit Lautsprecher! Nicht die Besoffenen, die frühmorgens halbtot auf dem Perron liegen. Nein, es sind die Sparbillette.

«Böse gesagt – die Schweizer sind schlicht zu dumm für Sparbillette.»

Die Sparbillette entwickeln sich für uns Kondukteure zunehmend zu einer Plage, die sich wegen der vielen Werbung extrem schnell ausbreitet. Für uns sind sie Hölle statt Segen. Denn ich habe das Gefühl – etwas böse gesagt – die Schweizer sind schlicht zu dumm für Sparbillette.

Warum? Jeder sollte inzwischen wissen, dass Sparbillette nur für einen bestimmten Zug gültig sind. Aber fast jedes Mal, wenn ich vor einem Zug stehe, kommt ein Typ mit dem Sparbillett und fragt, ob er nun trotzdem einen früheren Zug nehmen könne. Da denke ich: Sorry, ‹selber schuld›. Bei den Sparbilletten muss man sehr streng sein, sonst ufert es aus. Ein Beispiel: Kürzlich zeigte mir ein Mann am Nachmittag im Intercity nach Brig sein Sparbillett für einen Zug um 23 Uhr! Logischerweise ist dann das Ticket supergünstig. Ich sagte ihm, dass er auf dem falschen Zug sei und sich ein richtiges Ticket kaufen müsse. Dann antwortete der Mann, er habe gehört, dass am Sonntag die Zugsbindung für Sparbillette nicht gelte. So ein Quatsch. Und dann kommt immer die Forderung nach Kulanz. HALLO? Ich sage, ob ich kulant bin, nicht der Kunde. Kulanz heisst nicht, dass alle fahren können, wie und wo sie wollen.

«Kulanz heisst nicht, dass alle fahren können, wie und wo sie wollen.»

Noch ein Exempel gefällig? In übervollen Pendlerzügen glauben Reisende, sie können jetzt Selbstjustiz betreiben und ihre eigenen Regeln aufstellen. Sitzen mit einem 2.-Klasse-Ticket in die 1. Klasse. Sicher nicht! Das gibt dann richtig unschöne Diskussionen. Meistens klagen die Sünder dann noch, dass ich sie vor den anderen Passagieren blossstelle. Die ewigen Platzdiskussionen sind für das Zugpersonal mühsam. Pro Tag gibt es nur ganz wenige Züge, wo man wirklich keinen Sitzplatz findet. Aber viele Reisende haben das Gefühl, ein Viererabteil sei bereits mit zwei Leuten besetzt. Wenn zwei Plätze frei sind, ist es aber in Gottes Namen nicht voll. Dann müssen halt die Taschen von den Sitzen runter.

Aber, liebe User, denkt jetzt nicht, dass ich mich gerne im Zug als Chef aufspiele. Vielmehr versuche ich ein möglichst guter Gastgeber zu sein. Bei Pöbel-Passagieren hört aber der Spass auf. Kürzlich rastete ein Typ total aus. Dies nur weil ich ihn gebeten hatte, den Swisspass richtig aus seinem Portemonnaie hervorzuholen. Er sagte mir, ich sei ein Arsch**** und schikaniere die Leute. Seine Frau versuchte ihn zu besänftigen und entschuldigte sich für sein Verhalten. Aber seien wir ehrlich: Es vergeht keine Woche, wo du nicht als Idiot oder Arschloch bezeichnet wirst. Ich habe das Gefühl, wir Kondukteure werden zunehmend zum Blitzableiter für die wahren Probleme der Menschen.

«Ältere Kunden suchen oft krampfhaft das Negative.»

Dazu kommt die Wohlstandsverwahrlosung. Leider gibt es viele, oft ältere Kunden, die krampfhaft etwas Negatives suchen. Ein Beispiel aus der 1. Klasse auf dem Weg von Zürich nach Chur:

  • Draussen scheint die Sonne.
  • Alle Reisenden haben viel Platz.
  • Den Leuten geht es super.
  • Der Kellner bringt das Kafi direkt zum Sitz.

Einem Mann kommt trotzdem nichts anderes in den Sinn, als über den schaukelnden Zug zu motzen. Diese Nörgeler-Mentalität ist wirklich schlimm und bringt mich auf die Palme. Ich weiss, Verspätungen sind schei***, Zugsausfälle sind schei***. Da müssen wir besser werden. Aber es gibt Leute, die schon im Bahnhof krampfhaft etwas Negatives suchen. Einen Schlirgg an der Scheibe etwa. Meistens sind das nicht Pendler, sondern Ausflügler, die irgend einen negativen SBB-Artikel in der Zeitung gelesen haben. Und die Bestätigung suchen.

Es gibt schon Tage, an denen ich den Verleider habe. Tage, an denen ich innerlich durchdrehe. Einmal kam ein Typ in Zürich auf dem Perron zu mir und wollte mir klarmachen, wie ich meinen Job zu erledigen habe. Total von oben herab. Da ist mir auch ein ‹du Idiot› herausgerutscht. Einmal habe ich von einem Wirrkopf auf dem Bahnsteig fast eine kassiert. Als ich bei einem Streit zwischen Reisenden die Polizei beiziehen wollte, attackierte mich der Querulant. Seine Faust ging glücklicherweise daneben.

«Störungen sind ein huere Stress. Du stehst vor einem vollen Intercity und der macht keinen Wank. Da fühle ich mich ohnmächtig.»

Besonders stressig für uns Kondukteure sind Störungen am Zug. Da stehst du vor einem vollen Intercity. Und der macht wegen einer Lokstörung keinen Wank. Die Leute auf dem Perron schauen dich mit Argusaugen an. ‹Mach was!›, heisst es. In diesen Momenten fühlt man sich schon ohnmächtig. Ausser die Reisenden per Durchsage zu informieren und abzuwarten, kann man da nichts machen.

Zugegeben, das mit den Durchsagen klappt manchmal schon eher schlecht als recht. Denn es passiert, dass man vor lauter Stress mal eine Kundeninformation vergisst. Wenn eine Störung auftritt, vergeht die Zeit extrem schnell, da bin ich schon erschrocken: Sieben Minuten Verspätung und ich habe noch immer keine Durchsage gemacht. Das Problem ist auch der Personalabbau. Wenn man als Kondukteur alleine unterwegs ist, muss man sich entscheiden: Behebe ich jetzt zuerst die Störung oder informiere ich die Kunden. Ein ‹huere Stress›, denn ich kann nicht an drei Orten gleichzeitig sein. Wenn dann noch ein Passagier kommt und eine Fahrplanauskunft verlangt, sage ich schon mal, ich hätte jetzt etwas anderes zu tun.

Besonders aufreibend sind derzeit die Fahrten mit den Dosto-Zügen von Bombardier. Da musst du mehr Zeit für die Kontrollen einberechnen, weil jeder Passagier einen Kommentar zum «Schüttelbecher» oder zur «Bombe» abgibt, wie der FV-Dosto im Bähnler-Jargon heisst. Ich sage aber ehrlich meine Meinung: Ich finde den FV-Dosto keinen gelungenen Zug. Das wird er trotz Updates nie sein.

Dennoch fahre ich lieber mit dem Dosto als mit einem der alten «Viehwaggons». Kompositionen, wo man das Gefühl hat, sie fallen demnächst auseinander. Ich meine damit die weiss-militärgrünen Ersatzwagen. ‹Dieser Zug ist ja noch älter als sie›, sagte eine Frau kürzlich zu mir.

«Skirennen sind das Schlimmste: Männergruppen in Edelweisshemden stellten sich um 5 Uhr morgens kistenweise Bier rein und machten primitive Sprüche.»

Für mich die mühsamsten Fahrten sind jene bei Grossanlässen am Wochenende, wie etwa dem Skirennen in Adelboden. Letztes Jahr machte ich den Frühzug ins Berner Oberland. Ich bin ein sportbegeisterter Mensch, aber die Reise war unter aller Kanone. Bereits um 5 (!) Uhr morgens stellten sich Männergruppen in Edelweisshemden kistenweise Bier rein und rissen niedere Sprüche. Zu mir sagten sie, dass sie «kein Billett» haben. Du weisst in diesem Moment genau, dass sie dich verarschen. Sie ergänzen dann: «... sondern ein GA.» Diesen Spruch hört man fast täglich. Gegen aussen versuche ich dann krampfhaft zu lachen. Innerlich denke ich: ‹Du Vollidiot bist so was von nicht lustig.›

Der liebe Alkohol begleitet dich vor allem auf den Frühschichten am Samstag- und Sonntagmorgen. Immer wieder triffst du auf Schnapsnasen, die halbtot auf dem Perron liegen. Am Tag würdest du die Ambulanz rufen. Ich schaue meistens rasch, ob sie noch atmen oder helfe ihnen auf und gehe dann weiter. Tut mir leid, aber ich bin kein Samariter. Generell mag ich Frühzüge lieber als jene am Abend. Dann drehen die Passagiere wegen Verspätungen durch, morgens wollen sie einfach nur ihre Ruhe. Wehe, man weckt die Leute für die Ticketkontrolle. Dann kriegst du eine Standpauke.

«Die SBB-Chefs wollten zuletzt die Schraube anziehen. Resultat: Das Bahnsystem ist fast auseinandergebrochen.»

Trotzdem mache ich meine Arbeit auch nach sieben Jahre sehr gerne. Lieber User, du wirst es nach den Erzählungen kaum glauben, aber ich schätze besonders den Kundenkontakt. Die einfachen und kurzen Gespräche. Toll ist, dass ich in meinem Job in der ganzen Schweiz zu Hause bin. Ich lebe nicht in Zürich oder St.Gallen, sondern überall und bewege mich den ganzen Tag mitten in der Gesellschaft. Das ist zwar anstrengend, aber auch unglaublich bereichernd. Die Arbeit als Kontrolleur bietet viel Abwechslung. Alleine ab dem Depot Zürich gibt es hunderte verschiedene Touren.

Und ganz ehrlich: Bei unseren Touren ist schon Luft drin, bei unseren Schichten ist ordentlich leere Zeit eingeplant. Wenn ich von Zürich via Basel nach Luzern fahre, kann ich nicht wie die Passagiere umsteigen. Wir haben immer einen Zug als Puffer, sonst kollabiert das ganze Bahnsystem. Die SBB wollten die Schraube bei uns und den Lokführern zuletzt etwas anziehen. Das ging bös nach hinten los. Klar kann man sagen, wir seien ‹fuli Sieche›, aber Leerzeit ist Arbeitszeit. Die Pausen braucht es, um einen stabilen Bahnbetrieb zu gewährleisten. Und ohne die Unterbrüche kannst du den Job zudem nicht machen.

Wenn du aus einem bumsvollen Zug mit 500 Passagieren kommst, brummt der Schädel total. Nach solchen Fahrten vermeide ich es, in den Pausenräumen mit Lokführern zu reden. Die labbern in der Pause mehr als wir. Während sie vor der Ruhe flüchten, tun wir dasselbe vom dauernden Lärm.

Bonus: Absurde Fundgegenstände

Neben Handys und Portemonnaies begegnen uns immer wieder ominöse Gegenstände. Vor ein paar Monaten fand ich tatsächlich Krücken in der Gepäckablage. Da erfolgte im Zug offenbar eine Wunderheilung. Es ist kaum zu glauben, was die Leute alles vergessen. Grosse Koffer bleiben mitten im Abteil liegen, obschon die Reisenden fast drüber klettern müssen. Immer wieder finde ich Spritzen im Zug, das ist allerdings eine heikle Sache.

(Aufgezeichnet: amü)

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289 Kommentare
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Bongalicius
24.01.2020 09:39registriert Januar 2016
Wenn man den Artikel so liest, müssten man den Kondukteuren öfters Mal Danke sagen.
207561
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Bee89
24.01.2020 09:42registriert Mai 2018
Das bestätigt mal wieder meine Meinung, dass jeder Mensch ein "soziales" Jahr in einem Dienstleistungsberuf mit direktem Kundenkontakt machen müsste!
Egal ob Restaurant, Supermarktkasse oder halt Kondukteur.
Einfach mal um zu sehen, wie scheisse sie sich gegenüber anderen Menschen verhalten.
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pitpatput
24.01.2020 09:45registriert Juni 2017
Toller Artikel! Echt interessant mal aus dem Arbeitsalltag eines Kondukteurs zu erfahren.
Kann man da möglicherweise eine Serie machen und noch weitere Storys aus div. anderen Berufsgruppen machen (z.B. Pfleger*in, Lehrer*in, Zoowärter*in, etc.)? Ich würde es lesen!
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