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Ein Mann steht vor einem Graffiti und weiss: Das ist ein neuer Naegeli. Der Mann ist Kunstgeschichtsprofessor und hat Naegeli Jahrzehnte lang studiert. Und als wolle er höchstpersönlich noch den allerletzten Zweifel beseitigen, geht Naegeli selbst an seinem Werk und dessen Betrachter vorbei. Scheinbar, ohne die beiden zu bemerken. Ist das nicht furchtbar eitel? Nein.
«Es geht Harald Naegeli hier wirklich nicht um sich selbst, es geht ihm nur um seine Figur», sagt Felix Thürlemann, der Mann, der den Naegeli am Zürcher Heimplatz schliesslich fotografierte und für die WoZ dokumentierte. Die Figur ist für einen Naegeli schon fast barock überladen, kein mageres Insekt, das sich duckt oder streckt: Zwei Augen wandern in ihrem Kopf herum, ein Blitz geht durch Hirn und Mund, zwei Vaginas sind da, die eine hat Beine, und aus dem Hinterkopf wächst ein kleines Hodenpaar samt Penis.
Das Ganze sei exakt so gross wie der 75-jährige Naegeli selbst, ein Spiegelbild, erklärt Thürlemann, in exakten Skizzen vorbereitet und dann ganz schnell in der Nacht gesprayt. Obwohl von dieser Figur keine Gefahr für Naegeli ausgeht, schliesslich steht sie auf einem Stück Wand, das bald abgerissen wird und dem Kunsthaus-Erweiterungsbau von David Chipperfield Platz machen muss.
Wenn Naegeli auftritt, ist er zwar äusserst selbstbewusst und sagt Dinge wie «Ich bin ja doch der prominenteste Künstler dieser Stadt» (was nicht stimmt, Zürichs prominentester Künstler ist eine Frau und heisst Pipilotti Rist), aber seine Auftritte sind rar. Als Mensch ist Naegeli ein Eremit mitten in Zürich, in einem grossen Jugendstilbau in der Nähe des Hottingerplatzes, den er von seinem Vater geerbt hat. In einer riesigen, lichten Wohnung, in der er seit Jahren an einem neuen Grossprojekt namens «Urwolke» tupft und gerne die Einpersonen-Portionen vom Gerber Fertig-Fondue isst.
Harald Naegeli ist ein grossbürgerlicher Anarchist. Und sowas wie der polternde Pate der Street Art, die er gerne insgesamt verurteilt, weil sie für ihn zu sehr nach Werbe-Ästhetik aussieht. Er, der «Stricher» der Graffiti-Szene, dessen tierchenartige Figuren mit ihren Schnörkelgliedern immer ein wenig auch die kleinen Kinder der Hippie-Bewegung waren.
Ende der 70er-Jahre wurde er für seine «wunderbare Kreaturen» (Christoph Waltz über Harald Naegeli) gejagt, er floh nach Deutschland, und Alt-Bundeskanzler Willy Brandt schrieb an den Aussenminister Hans-Dietrich Genscher: «Ich würde es begrüssen, wenn die Bundesregierung einen Weg findet, die Schweiz dazu zu bewegen, von ihrem Auslieferungsersuchen Abstand zu nehmen.»
Brandts Intervention half nichts, Naegeli wurde verhaftet, an die Schweiz ausgeliefert und kam für neun Monate ins Gefängnis. Danach ging er wieder nach Deutschland, zu seinem Freund Josef Beuys. Erst vor wenigen Jahren ist er nach Zürich zurück gekehrt, versöhnt ist er nicht, sein Vermögen wird er einmal Greenpeace und dem Tierschutz vermachen, seine Werke deutschen Museen schenken.
Früher waren seine Zürcher Strichmännchen herzige, verschmitzte Geheimagenten und Vorboten der Zürcher Jugendbewegung der 80er-Jahre, als die Rote Fabrik, die WoZ, das Theaterhaus Gessnerallee und der Jazzclub Moods gegründet wurden. Heute am Heimplatz zeigen sich zornige Naegeli-Striche: Gegen die Gentrifizierung des alten Turnhallenareals und für die Befreiung des in einer sterilen Kunsthaus-Ausstellung eingesperrten spanischen Kollegen Joan Miró.
Naegelis Figur ist eine Liebeserklärung an Miró, aber auch ein Freund, der einem andern – einem kleinen Männchen auf der Miró-Flagge an der Kunsthausfassade – zuschreit: «Weg hier!» Ein Rufer mitten im Strassenverkehr von Zürich. Und an dem verregneten Morgen, an dem ich ihm zum ersten Mal begegne, wird er von sämtlichen Passanten übersehen. Obwohl jedes Tram, jedes Auto daran vorbeifährt. Ein unausweichlicher Naegeli. Aber ein flüchtiger. Und einer auf der Flucht.
Und doch ist der Stricher ihr künstlerisch Welten voraus.