Ein Leberhaken ist die Hölle. Wenn die Faust auf diesen besonderen Punkt unter den Rippen schnellt, zieht sich das Organ blitzartig zusammen. Starke Schmerzen durchzucken den ganzen Körper und der Nervus vagus wird aktiviert. Das Herz schlägt langsamer. Der Blutdruck sackt ab.
Karin Keller-Sutter, freisinnige Finanzministerin, boxt erst seit etwa anderthalb Jahren im legendären Berner Boxclub an der Kochergasse. Sie sei sehr talentiert, sagt ihr Trainer Geri Staudenmann, sehr engagiert, erziele grosse Fortschritte. Vergangenen Mittwoch war der Ring das Bundeshaus und statt Handschuhen trug sie die Last einer Bankenrettung.
In der vierten Runde aber fasste sie nach einer derben Links-rechts-Kombination genau einen solchen Wirkungstreffer: Der Nationalrat sagte zum zweiten Mal Nein zum Nachtragskredit für den bundesrätlichen Notrechtsentscheid. Juristisch ist damit nichts passiert: Die Credit Suisse wird unbesehen eines trotzigen Nationalrats mit vielen staatlichen Garantien als Brautschmuck mit der UBS zwangsverheiratet. Persönlich aber ist die Protestnote des Parlaments zum Milliardendeal die grösste Niederlage in der Bundesratskarriere einer Frau, die es hasst, zu verlieren.
Schon im Bundesratswahlkampf vom vergangenen Herbst wurde ruchbar, dass Keller-Sutter gerne ins Finanzdepartement wechseln würde. Sie wollte das Kleid der beinharten Justizministerin abstreifen, dem sie ohnehin entwachsen war.
Vielfach wurde geschrieben, sie sei halt keine Gestalterin, wobei das schon lange nicht mehr stimmte: Sie hat das Sexualstrafrecht reformiert, eine Überbrückungsrente für ältere Arbeitslose gezimmert und die häusliche Gewalt bekämpft – was sie einst als ihren grössten Erfolg herausstrich. Eine beachtliche Bilanz als Vorsteherin eines Departements, das sie anfänglich gar nicht wollte. Spätestens als sie den Schutzstatus S für Ukrainerinnen aktivierte, strafte sie alle Lügen, die in ihr noch immer die «Iron Lady» von Wil sehen wollten.
«Karin Keller-Sutter ist niemand, der sich vor grossen Aufgaben scheut», sagt FDP-Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher. Wie Keller-Sutter stammt sie aus St. Gallen, war einst ihre rechte Hand im kantonalen Parteipräsidium – und gehörte am Mittwoch zu den Ersten, die der Bundesrätin nach der verlorenen Schlacht ihren Trost anboten.
«KKS», die Akribische, die sich immer gut auf Eventualitäten vorbereitet, muss die Unruhen um die Credit Suisse mehr als geahnt haben. Im vergangenen Herbst schon hatte das in Keller-Sutters Justizdepartement angesiedelte Bundesamt für Justiz ein Gutachten ausgearbeitet, das den Einsatz von Notrecht in einer plötzlichen Bankenkrise rechtfertigt. Und bereits «am zweiten Arbeitstag» als Finanzministerin habe sie im Lenkungsgremium zur Finanzkrise die Frage gestellt: Wann ist der richtige Zeitpunkt, um bei einer kollabierenden Grossbank einzugreifen? Rückblickend wirkt es, als ging Karin Keller-Sutter sehenden Auges in das Amt der Krisenministerin.
Wenige Wochen später war es so weit: An den Iden des März nahm das Unheil seinen Lauf. Kurzzeitig reanimierte Keller-Sutter die Credit Suisse mit einer 50-Milliarden-Spritze der Nationalbank, nur um sie am Wochenende in Palliativpflege zu verlegen. Ihr Auftritt an jenem Sonntagabend vor der Schweizer und der Weltpresse: magistral, wenn auch müde. Wer mag es ihr verdenken: Kaum im Amt musste sie eine internationale Finanzkrise verhindern.
Das Ringen zwischen Bundesrat, Topmanagern und Vertretern der wichtigsten Finanzplätze ist hinlänglich dokumentiert. Tolle Porträts von der famosen Finanzministerin erschienen in der deutschen «FAZ» und der «Financial Times». Diese Woche liess Keller-Sutter erstmals durchblicken, dass nicht zuletzt die Verhandlungen mit Nationalbankpräsident Thomas Jordan zäh waren. «Wir mussten uns mit der Nationalbank – ich kann es nicht diplomatischer sagen – auch einigen», sagte sie im Parlament. Der Zeiger an der Uhr stand da schon nach zehn. Zu dieser Stunde wäre sie an einem normalen Tag bereits im Bett.
Das ist ebenfalls typisch für Keller-Sutter: dass sie oft mehr sagt, als sie eigentlich müsste. An der Pressekonferenz zur Credit Suisse platzte aus ihr der Satz heraus: «Ich habe selber ein Konto bei der CS und dort auch eine Hypothek.» Christoph Blocher schimpfte sie prompt und nicht zum ersten Mal «geschwätzig». Vergangenen Mittwochnachmittag war das Gegenteil das Problem: Weil sie sich nicht festlegen wollte, wie sie die Grossbanken in Zukunft zähmen will, versagte ihr die SP die Unterstützung.
Viel hätte nicht gefehlt. Zeitweilig sah es so aus, als ob die SP einlenken würde. Aber mehr und mehr machte sich Misstrauen breit und in der hintersten Reihe links des Nationalratssaals verschränkten die SP-Chefs und -Chefinnen die Arme vor der Brust.
Cédric Wermuth, Roger Nordmann, Samira Marti: Nacheinander liefen sie zum Rednerpult und löcherten die Finanzministerin sturmreif. Sie alle wollten eines: ein klares Bekenntnis, dass Keller-Sutter eine höhere ungewichtete Eigenkapitalquote für die neue Grossbank einführt, und zwar als direkte Folge auf die aktuelle Krise und nicht im Zusammenhang mit der international abgestimmten Revision Basel III, die ohnehin kommt. Es ist diese Zahl, auch Verschuldungsquote genannt, die Auskunft gibt über die Risikobereitschaft einer Bank.
Das konnte oder wollte Keller-Sutter nicht. Mehr noch: In den Kommissionen hatte sie sich dafür eingesetzt, dass sämtliche konkreten Aufträge von Motionen zu Postulaten abgeschwächt würden. Das heisst: Statt dass der Bundesrat konkrete Aufträge erhält, soll er erst mal ein paar Berichte schreiben. Vulgo: prüfen.
Bei der SP schwoll der Ärger an. Schon einmal hatte Keller-Sutter sie im Kampf gegen das Grosskapital ausgebremst: Man habe die «Tricksereien» der Bundesrätin bei der Konzernverantwortungsinitiative noch nicht verwunden, heisst es im Gespräch mit Fraktionsmitgliedern. Damals versprach Keller-Sutter, dass die Schweiz grosse Unternehmen schärfer regulieren würde - allerdings nicht im Alleingang, sondern international abgestimmt. Mittlerweile hat die EU weitergehende Pläne, doch in der Schweiz lässt sich der Bundesrat Zeit. Das Gleiche war den Linken auch 2008 passiert: Nach den leeren Versprechungen bei der UBS-Rettung wolle man sich nicht mehr einfach abspeisen lassen.
Es gibt Stimmen, die sagen: Karin Keller-Sutter konnte gar nicht gewinnen. Diese These nährt SP-Ständerätin Eva Herzog. Sie sagt: «Viele wollten nicht zustimmen, komme, was wolle.» Gleichzeitig findet auch Herzog: «Wenn sie wirklich sicher sein wollte, hätte sie ein bisschen deutlicher werden müssen.» Es bleibt Keller-Sutters Geheimnis, warum sie lediglich mit Basel III argumentierte.
Vielleicht hätte Keller-Sutter klarere Worte gefunden, hätte sie auf ein vollumfängliches Kommunikationsteam zählen können. Beim Wechsel ins Finanzdepartement kam es zu Änderungen: Christof Nufer hatte per Ende 2022 gekündigt, Nachfolger Pascal Hollenstein übernimmt erst im Mai. Das Vakuum im engsten Zirkel von Keller-Sutter war diese Woche noch etwas grösser, weil ihre persönliche Mitarbeiterin, die ehemalige NZZ-Inlandchefin Heidi Gmür, in den Ferien weilte.
Vielleicht hätten auch mahnende Worte eines Verbündeten geholfen. Vergangenen Dezember quittierte Genosse Paul Rechsteiner den Dienst am Bundeshaus. Der St. Galler Ständerat hatte ein gutes Verhältnis zu seiner freisinnigen Kollegin. Er übersetzte für die gelernte Dolmetscherin die Positionen der Gewerkschaften, ganz besonders in der EU-Frage. Einen Rechsteiner hätte Keller-Sutter am Mittwoch spätestens im Nationalrat gut gebrauchen können. So aber wirkte sie ganz allein gelassen.
Vielleicht war Karin Keller-Sutter nach Stunden des Debattierens aber auch einfach müde, um nach Tagen mit beiden Fäusten vor dem Gesicht die linke Seite umfassend abzudecken.
Als Finanzministerin Karin Keller-Sutter kurz nach 14 Uhr wortlos den Nationalratssaal verlässt, reagiert der Weltmarkt achselzuckend: Kurz juckt der Kurs der UBS-Aktie um ein Quantum nach unten, um bald darauf weiter zu steigen. Wenig später nahm die Finanzministerin einen Flieger mit Kurs nach Washington, um beim Internationalen Währungsfonds aufzutreten. Die Schweizer Aufarbeitung der Krise dürfte dort kaum jemanden interessieren.
„ Das konnte oder wollte Keller-Sutter nicht.“
Eines ist klar: KKS will so etwas ganz bestimmt nicht. Als Teil des FDP-Bankenfilzes sieht sie es offenbar als ihre Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass die Bankster weiter ungestört ihr Unwesen treiben und maximale Gewinne einfahren können.
Anwort: der Mittelstand verarmt, die Reichen werden reicher und reicher. Südamerikanische Verhältnisse. Und den Mächtigen ist das egal. Schon das Streben nach Gewinnmaximierung weist auf maximale Skrupellosigkeit hin.