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Wirtschaft

Corona: Die Schweiz stellt sich beim Impfen selbst ein Bein

epa08724569 A staff member sets up an antibody production line at the Ibex building of Lonza, where part of the Moderna mRNA coronavirus disease (COVID-19) vaccine will be produced, in Visp, Switzerla ...
Im hochmodernen Ibex-Komplex von Lonza wird der Moderna-Impfstoff produziert.Bild: keystone
Analyse

Die Schweiz stellt sich beim Impfen selbst ein Bein

Die Corona-Impfungen kommen in der Schweiz nur schleppend voran. Das hat sie sich selbst zuzuschreiben. Beim Bund fehlte der Mut, aus gewohnten Strukturen auszubrechen.
11.03.2021, 16:4912.03.2021, 15:15
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Die Schweiz ist eine Pharma-Weltmacht. Sie war einst auch führend bei der Herstellung von Impfstoffen. Die grossen Konzerne aber haben dieses wenig rentable Geschäftsfeld längst abgestossen. Bei den Impfungen gegen das Coronavirus ist die Schweiz deshalb auf Produzenten aus anderen Ländern angewiesen. Das klappt bislang mehr schlecht als recht.

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Die Lieferungen kommen schleppend voran, viele Kantone sind mit ihren Impfplänen im Rückstand. «In Kontinentaleuropa sind wir vorne dabei», sagte Anne Lévy, die Direktorin des Bundesamts für Gesundheit (BAG), im Interview mit watson. Das trifft zu, doch wir liegen weit hinter den «Impf-Champions» Israel, Chile, Grossbritannien oder den USA.

Dabei hätte die Schweiz die Möglichkeit gehabt, in der gleichen Liga mitzuspielen. Doch beim Bund fehlte der Mut zum Risiko und die Bereitschaft, eingetretene Pfade zu verlassen. Zum Beispiel bei der Finanzierung. Mehrere Schweizer Forscher begannen letztes Jahr mit der Entwicklung eines Impfstoffs gegen das Coronavirus. Sie scheiterten ausnahmslos.

Angebot von Lonza

Dafür verantwortlich machten sie nicht zuletzt die fehlende finanzielle Unterstützung durch den Bund. Andere hatten weniger Hemmungen, vor allem die USA. Die Trump-Regierung pulverte mit der Operation Warp Speed Milliarden in die Entwicklung und Produktion von Corona-Vakzinen. Auch europäische Länder investierten in die Impfstoff-Forschung.

Die Schweiz blieb passiv. Dabei hätte sich offenbar eine weitere Möglichkeit eröffnet, dank Lonza. Der Basler Pharmakonzern ist der wichtigste Partner der US-Firma Moderna. Im riesigen Ibex-Komplex am Rande des Oberwalliser Städtchens Visp produziert Lonza dieses Jahr 300 Millionen Dosen des von Moderna entwickelten mRNA-Impfstoffs.

Und es gäbe Platz für mehr. Lonza-Präsident Albert Baehny habe der Schweiz den Bau einer eigenen Produktionsanlage angeboten, berichten die Tamedia-Zeitungen. Doch der Bund lehnte ab. Was genau ablief, ist unklar. Tamedia beruft sich auf ungenannte Quellen: «Weder Lonza noch Moderna wollten zu diesem Vorgang einen Kommentar abgeben.»

Albert M. Baehny, Chairman of Lonza, right, welcomes Alain Berset, Swiss Federal Councillor and health minister, at the Swiss pharma and biotech company Lonza manufacturing the Covid-19 vaccine for US ...
Lonza-Präsident Albert Baehny (r.) empfängt Bundesrat Alain Berset bei dessen Besuch in Visp im Januar.Bild: keystone

Die für die Impfstoff-Beschaffung zuständige BAG-Vizedirektorin Nora Kronig bestätigte ihn indirekt: «Es müsste die Gesetzesgrundlage angepasst werden, um in eine staatliche Impfstoffproduktion zu investieren. Und auch eine staatliche Produktion könnte nicht sofort genügend Dosen für alle bereitstellen», sagte sie zu den Tamedia-Recherchen.

Chance verpasst

Der Aufbau der Anlage hätte Zeit und Geld beansprucht (Tamedia schreibt von 60 bis 70 Millionen Franken). Nach dem Start der Produktion aber wäre der Eigenbedarf der Schweiz innerhalb weniger Wochen gedeckt worden. Der «Überschuss» hätte an ärmere Länder geliefert werden und die Schweiz sich mit «Impf-Diplomatie» profilieren können.

Diese Chance wurde verpasst. Die Schweiz muss auf Lieferungen aus dem Ausland warten «Für uns war immer klar, dass am Anfang eine Knappheit bei den Impfstoffen herrscht. Es gibt klare Produktionsgrenzen, die nur die Zeit lösen wird. Die Jahresproduktion kann nicht gleich in den ersten Monaten bereitstehen», sagt Nora Kronig gegenüber Tamedia.

Swissmedic bremst

Umso seltsamer mutet es an, dass beim Impfstoff des britisch-schwedischen Pharmariesen AstraZeneca die Zulassung weiterhin aussteht. BAG-Chefin Anne Lévy sagte gegenüber watson, man werde den Impfstoff in der Schweiz einsetzen. Doch das für die Zulassung zuständige Heilmittelinstitut Swissmedic steht quasi auf dem Schlauch.

«Swissmedic wie auch die US-amerikanische FDA können im Moment gestützt auf die vorliegenden Daten die Sicherheit, Wirksamkeit und Qualität nicht abschliessend beurteilen», rechtfertigt sich die Behörde auf Twitter. Weiter verweist sie auf eine formaljuristische Hürde: «Das Gesetz sieht in der Schweiz keine Notfallgenehmigungen vor.»

Studien sind «nicht ausreichend»

Dabei wurde und wird der AstraZeneca-Impfstoff in Grossbritannien und der EU schon millionenfach verwendet. Eine in «The Lancet» veröffentlichte Studie zeigt, dass die Schutzwirkung des an der Universität Oxford entwickelten Vakzins erhöht wird, wenn die zweite Dosis erst nach zwölf statt wie ursprünglich geplant nach sechs Wochen verabreicht wird.

Für Swissmedic aber sind Anwendungsstudien als Basis eines Zulassungsentscheides «nicht ausreichend». Lieber wartet man auf eine klinische Studie aus den USA, die vielleicht nie kommen wird. Denn die Amerikaner brauchen AstraZeneca eigentlich nicht. Sie haben schon so viel Impfstoff, dass Präsident Joe Biden ihn mit anderen Ländern teilen will.

Schweiz setzt auf mRNA

Dazu gehört auch derjenige von Johnson & Johnson. Die Schweiz will darauf verzichten, wie BAG-Vizedirektorin Kronig im «Blick»-Interview erklärte. Dabei wurde er teilweise bei der J&J-Tochterfirma Janssen Vaccines in Bern entwickelt. Für die Schweiz aber kommt die Lieferung laut Kronig zu spät: «Sie wäre erst ab dem dritten Quartal möglich.»

Es fragt sich, ob die Impfkampagne bis dann abgeschlossen ist. Einzelne Kantone befürchten, dass dies erst im Herbst der Fall sein wird. Die Schweiz setze «im Moment den Fokus auf mRNA-Impfstoffe», sagte Nora Kronig dem «Blick», wegen der höheren Wirksamkeit, und weil sie rasch an Virus-Mutationen angepasst werden können.

Einmal mehr Nullrisiko-Mentalität

Das mag zutreffen, doch es erhärtet den Verdacht, dass beim Bund eine Nullrisiko-Mentalität vorherrscht. Man «verschanzt» sich hinter Gesetzen und der liberalen Marktordnung. Eine Pandemie aber verlangt nach schnellem Handeln ohne marktwirtschaftliche Dogmen. Für die Produktion von Impfstoffen etwa müssen rasch Überkapazitäten geschaffen werden.

Für Tamedia hat es «am Willen gefehlt, den Pfad der Trennung zwischen Wirtschaft und Staat zu verlassen». Der Bund verhängt Lockdowns und zahlt Milliarden für Härtefall-Hilfen statt einige hundert Millionen für die Entwicklung und Herstellung von Impfstoffen. Dabei machen die USA als Hochburg des Kapitalismus vor, wie es auch gehen könnte.

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115 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Jonas der doofe
11.03.2021 16:59registriert Juni 2020
Mir gehts einfach nur noch auf den Geist die ganze Coronasch*****e. Und wenn ich dann solche Sachen höre, dass für läppische 100 Mio eine eigene Produktionslinie in der Schweiz hätte errichtet werden können, bin ich grad nochmals xmal mehr angepisst. Sind das alles Stümper frage ich mich da?
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raues Endoplasmatisches Retikulum
11.03.2021 17:00registriert Juli 2017
Man muss sich das mal vorstellen: Es besteht eine gesetzliche Grundlage, die gesamte Bevölkerung zu Hause "einzusperren", ganze Branchen stillzulegen um sie dann mit Milliarden über Wasser zu halten, die demokratischen Prozesse stillzulegen etc. Für all das gibt es Gesetzte.
Was aber nicht geht, mit einem CH-Konzern zusammenzuarbeiten, um Impfstoffe schneller herzustellen, dass geht dann nicht.
"Eine Pandemie aber verlangt nach schnellem Handeln ohne marktwirtschaftliche Dogmen."
Billige Polemik, was haben dann bitte die anderen Massnahmen mit marktwirtschaftliche oder liberalen Dogmen zu tun?
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Black Cat in a Sink
11.03.2021 17:11registriert April 2015
Es ist wahrscheinlich einfacher, eine Bank zu retten als ein solches Angebot anzunehmen.
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