Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 hatte der Ruf der Atomenergie in Westeuropa stark gelitten: zu gefährlich, zu unsicher, nicht zukunftstauglich. Neben Deutschland, Spanien und Belgien stieg auch die Schweiz unter Umweltministerin Doris Leuthard aus der Kernenergie aus und leitete mit der Energiestrategie 2050 einen grundlegenden Umbau der Stromversorgung ein.
Dabei hatte die Energiegewinnung durch Kernspaltung noch in den 1960er-Jahren bei hiesigen Naturschützern Euphorie ausgelöst und beim Bundesrat die Hoffnung auf eine unabhängige und praktisch kostenlose Stromversorgung geweckt. Die Regierung liess gar in den Alpen nach Uran graben – erfolglos.
Trotzdem entstanden fünf Atomkraftwerke in der Schweiz, die aktuell noch so lange am Netz bleiben dürfen, wie sie sicher sind. In den aktuellsten Modellrechnungen kalkuliert der Bund ab spätestens 2043 jedoch gar nicht mehr mit der Kernkraft.
Jetzt zeichnet sich wiederum eine Wende ab: Die Atomkraft steht vor einem Comeback, weil der Ausbau der erneuerbaren Energieträger in Europa nicht rasch genug vorangeht und Versorgungslücken drohen. Die Schweizer Aufsichtsbehörde Elcom warnte deshalb vor einer Strom-Mangellage ab 2025. Daneben hat die EU-Kommission auf Druck von Frankreich Atomkraft jüngst als «grün» eingestuft. Auch in der Schweiz denken die SVP, die FDP oder Economiesuisse laut über den Bau neuer Kernkraftwerke nach. Global haben Länder wie China, die USA und Russland der Technologie gar nie abgeschworen.
Neben den bekannten Risiken und dem weiterhin ungelösten Problem der Entsorgung des Atommülls stellt sich die Frage, ob Investitionen in CO2-armen Atomstrom einen Beitrag zur raschen Erreichung der Klimaziele leisten – oder ob es effizienter wäre, damit den Ausbau der erneuerbaren Energien voranzutreiben, die schneller ans Netz gehen.
In diese Richtung jedenfalls versucht die atomkritische Schweizerische Energie-Stiftung nun, die wiederaufgeflammte Atomdebatte zu lenken. Sie hat dazu beim renommierten Energie-Experten Amory Lovins ein bisher unveröffentlichtes Gutachten bestellt.
Lovins, Professor für Bau- und Umweltingenieurwesen an der Stanford University (USA), ist selbst ein Verfechter der erneuerbaren Energien. Er bezeichnet sich aber nicht als «links» oder «grün», sondern als Anhänger der freien Marktwirtschaft.
In der Studie macht er klar, wohin die Reise weltweit geht: Bereits 2020 gingen 782-mal mehr erneuerbare Energiequellen ans Netz als Atomstrom. Zudem floss 20-mal mehr Kapital – hauptsächlich aus dem Privatsektor – in erneuerbare Energien, rechnet er vor, während neue AKW sich global fast nur aus Staatsgeldern speisten.
Über die Zukunft der Kernenergie entscheide vorab deren Wirtschaftlichkeit, sagt Lovins. Und um diese sei es schlecht bestellt. In den USA seien die Preise für unsubventionierten Wind- und Solarstrom zwischen 2009 und 2020 um bis zu 90 Prozent gefallen, während Strom aus neuen AKW im selben Zeitraum um einen Drittel teurer geworden sei.
Ein Ende dieser Entwicklung ist für Lovins nicht absehbar: In den USA machen AKW dicht, weil die Kosten des von ihnen produzierten Stromes bereits die Endkundenpreise übersteigen; Grossprojekte für neue Meiler stürzen angesichts der hohen Komplexität ab. Auch global sieht er schwarz bei Neubauprojekten: Strom aus solchen Anlagen werde zwischen fünf- bis 18-mal mehr pro Kilowattstunde kosten als Solar- oder Windkraft – während dort die Preise weiter fallen.
Gleichzeitig wecken neue Reaktortechnologien wie Small Modular Reactors (SMRs) Hoffnung auf ein neues Atomzeitalter. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will auf diese Technologie setzen. Aber solche Mini-AKW seien überhaupt erst 2029 lieferbar, nicht konkurrenzfähig und vermutlich erst ab den späten 2030er-Jahren einsatzbereit, schreibt Lovins – dabei haben sich die Länder bis dahin ambitionierte Klimaziele gesetzt.
Und das ist Lovins zentraler Punkt: Wenn es darum geht, mit möglichst wenig finanziellen Mitteln möglichst rasch viel CO2 einzusparen, sei Atomstrom keine Option. «Um CO2 zu sparen, müssen wir die günstigsten, schnellsten und effizientesten Alternativen als Ersatz für fossile Brennstoffe kaufen.» Er rechnet vor: Erneuerbare Energien sparen drei- bis 13-mal mehr CO2 ein als Atomstrom – und das zehn Jahre früher. Lovins Fazit zur Wirtschaftlichkeit von Atomstrom ist deshalb glasklar: «Die Nuklearenergie stirbt langsam an einer unheilbaren Attacke der Marktkräfte.»
Doch ist dieses Fazit auf die Schweiz übertragbar? Durchaus, findet die Schweizerische Energie-Stiftung. «Atomstrom ist heute kein ‹business case› mehr», sagt Fabian Lüscher. Die Kraftwerke hätten sehr hohe Betriebskosten und müssten das ganze Jahr lang laufen. Dabei brauche es künftig flexible Kapazitäten, wie sie zum Beispiel Wasserkraftwerke oder Speicher bieten, um die Solarenergieproduktion zu ergänzen. «Atomkraftwerke passen wirtschaftlich und technisch nicht ins Energiesystem der Zukunft.»
Tatsache ist aber auch: Ob Strom aus Atomkraft noch mit jenem aus Solarpanels oder Gaskraftwerken mithalten kann, hängt stark von den lokalen Begebenheiten ab. Laut einem Bericht der Internationalen Energieagentur (IEA) sind Windkraft und Fotovoltaik in Europa kostenmässig Atom- oder Gaskraftwerken ebenbürtig. Anders in Japan, Korea oder Russland. Dort ist Nuklearenergie wirtschaftlich im Vorteil.
In der Schweiz können die Betreiber derzeit die Kernkraftwerke kostendeckend betreiben. Das AKW Gösgen produziert eine Kilowattstunde Strom für 4.23 Rappen, was im Vergleich zur Fotovoltaik konkurrenzfähig ist. Trotzdem heisst es bei der Axpo auf Anfrage: «Wir gehen davon aus, dass sich ein KKW-Neubau in der Schweiz aktuell nicht wirtschaftlich darstellen liesse. Zudem käme ein Neubau aus heutiger Sicht wohl nicht rechtzeitig – denn die Schweiz will bis 2050 Netto-Null erreichen.»
Solche Prognosen sieht Stefan Diepenbrock vom Nuklearforum differenzierter. Die Organisation setzt sich für die Kernenergie ein. Er bezweifelt, dass die Erkenntnisse aus den USA überhaupt auf die Schweiz übertragbar sind. «Und es ist nicht zielführend, Atomkraft gegen erneuerbare Energien auszuspielen.» Es gehe nicht um «Entweder-oder», sondern darum, dass Kernenergie mit den bestehenden Kraftwerken einen wichtigen Beitrag für die Umsetzung der Energiestrategie leisten könne. «Nur so können wir Versorgungssicherheit garantieren und den Klimaschutz vorantreiben», sagt Diepenbrock.
Er anerkennt, dass die erneuerbaren Energien zwar immer günstiger werden. «Aber es gibt noch keine ausreichenden Speicherlösungen. Bis das Problem gelöst ist, sind AKW dringend nötig.» Kommt hinzu: Bei einer möglichen Strommangellage im Winter, wie sie der Bund skizziert hatte, sollen Gaskombikraftwerke zum Einsatz kommen. «Damit würde die Schweiz die fossile Stromerzeugung forcieren und die eigenen Klimaziele untergraben», findet Diepenbrock.
Er bedauert, dass die Weiterentwicklung der Kernenergie und deren Beitrag zum Klimaschutz derzeit ignoriert werde. Der Bau neuer AKW ist gesetzlich verboten. «Das sollten wir überdenken und technologieoffen planen. Es ist ja nicht so, dass, wenn das Verbot weg ist, sofort ein AKW gebaut würde.»
Tatsächlich bräuchte es dafür zuerst interessierte Investoren. Ob die zukünftigen Rahmenbedingungen diese anlocken, ist offen. So heisst es beim Bundesamt für Energie: «Dass neue Kernkraftwerke heute zu den teuersten Stromproduktionstechnologien gehören, hat mit den immer höheren Sicherheitsanforderungen zu tun.» Dies dürfte der Hauptgrund sein, warum die Axpo bereits angekündigt hat, dass «Investitionen in neue Kernkraftwerke nicht Bestandteil der Strategie» seien.
Wie lange bestehende AKW weiterlaufen oder wann neue Anlagen zum dringenden Thema werden, hängt nicht allein von den Kosten des AKW-Stroms ab. Um die Ziele der Energiestrategie zu erreichen, gilt es nämlich nicht nur den Atomstrom zu ersetzen, sondern auch den steigenden Strombedarf in den nächsten Jahren zu decken.
Dazu sind weitere Ausbauten bei Fotovoltaik und Wasserkraft nötig. Diese will Umweltministerin Simonetta Sommaruga nun mit abgekürzten Verfahren vorantreiben. Gelingt dies nicht schnell genug, bliebe der Weiterbetrieb der bestehenden AKW bis an deren Lebensende alternativlos – ob ökonomisch sinnvoll oder nicht. (saw/aargauerzeitung.ch)
Man müsste sich dann nur um die Speicherung für die "dunklen" 3 Wintermonate kümmern.
Wieso haben wir noch nicht alle Dächer mit PV?
Ist das nicht günstiger als Akw's zu bauen und zu betreiben?
Dazu muss aber JETZT ein Perspektivenwechsel stattfinden und dieser rasch in die Tat umgesetzt werden.
Energieversorger sollten Z.B. Abos für Hydroclouds anbieten, um Überschussenergie aus PV-Anlagen in bestehenden Speicherkraftwerken statt in unökologischen Hausbatterien speichern zu können. So würde auch nachhaltige Speicherung für den Winter, aus Überschuss-Energie im Sommer funktionieren.