Die Steuerlast wächst - ungesehen, sehr wahrscheinlich ungewollt und auf alle Fälle nicht demokratisch abgesegnet. Vielmehr nimmt die Fiskalquote automatisch mit den steigenden Nominallöhnen und dem steigenden Wohlstand zu. Und das summiert sich: 2020 mussten die Haushalte aufgrund des Reallohnwachstums der vergangenen zehn Jahre dem Bund ganze 800 Millionen Franken mehr bezahlen, als es eigentlich hätte der Fall sein sollen, wäre die Bundessteuerlast im Gleichschritt mit den Löhnen angestiegen. Das zeigt eine neue Studie der wirtschaftsnahen Denkfabrik Avenir Suisse.
Der Grund für diese Zunahme der Steuerlast ist die «warme Progression», wie Studienautor Lukas Rühli erklärt. Diese kommt zum Zug, wenn die Löhne aufgrund eines gesamtgesellschaftlichen Produktivitätswachstums steigen. Oder anders gesagt: Steigt der Wohlstand, steigen meist auch die Löhne - und als Folge davon auch die Bundessteuern. Doch sie tun das überproportional. Denn die Erwerbstätigen klettern mit steigenden Löhnen automatisch die progressiv ausgestaltete Steuertarif-Tabelle hoch, die heute nur bei Inflation angepasst wird.
Im Schnitt sind die Reallöhne zwischen 2010 und 2020 um rund 8.4 Prozent angestiegen, wie aus den Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BFS) hervorgeht. Folglich hätten gemäss Avenir-Suisse-Ökonom Rühli auch die Bundessteuereinnahmen von natürlichen Personen um besagte 8.4 Prozent ansteigen sollen - auf insgesamt 11.25 Milliarden Franken. In Tat und Wahrheit lieferten die natürlichen Personen aber 12.05 Milliarden Franken an Bundessteuern ab. Das entspricht dem besagten Plus von 800 Millionen Franken, wobei bei dieser Rechnung allfällige Effekte des Bevölkerungswachstums herausgerechnet wurden. Oder anders gesagt: Das Volumen der direkten Bundessteuern ist bei den natürlichen Personen um gut 16 Prozent angestiegen - und damit fast doppelt so stark wie die durchschnittlichen Reallöhne.
Rühlis Berechnungen beziehen sich nur auf die Bundesebene. Nebst den gut 12 Milliarden Franken Bundessteuern zahlten die natürlichen Personen 2020 zudem fast viermal so viel an die Kantone und die Gemeinden, das heisst rund 47 Milliarden Franken. Auf wie viel sich hier die «überproportionalen» Steuererhöhungen belaufen, kann der Ökonom nicht genau beziffern. Die meisten kantonalen Steuersysteme seien weniger progressiv ausgestaltet als die direkte Bundessteuer, weshalb der prozentuale Effekt kleiner ausfallen dürfte. Angesichts der riesigen Summe an Gemeinde- und Kantonssteuern dürfte aber der Umfang der Steuerschuld, die einzig auf die «warme Progression» zurückzuführen ist, in absoluten Zahlen deutlich höher ausfallen und folglich die 800 Millionen mehr als verdoppeln.
Der kaum beachtete Anstieg der Fiskalquote hat nebst der höheren Steuerlast auch weitere unerwünschte Nebenwirkungen, wie Rühli ausführt. «Die ‹warme Progression› senkt die Progressionswirkung des Steuersystems: Sie reduziert also die Umverteilung von Reich zu Arm.» Das liege daran, dass die Progressionswirkung im hiesigen Steuersystem bei den mittelhohen Einkommen am höchsten sei. «Mit der warmen Progression rutscht ein immer grösser werdender Anteil der Haushalte in die höchste Steuertarifstufe hinein, und das wiederum senkt den Anteil, welchen die ganz reichen Haushalte ans Steuervolumen beitragen.»
Diesen Befund untermauert Rühli mit Berechnungen zur Steuerkategorie der «Verheirateten». Hier hätten die einkommensstärksten 5 Prozent der Haushalte 2019 «nur» noch 60.6 Prozent zum gesamten Bundessteuervolumen der natürlichen Personen bezahlt. «Zehn Jahre zuvor lag der Anteil noch bei 63.3 Prozent.»
Der Steuerkuchen wird in absoluten Zahlen also immer grösser, doch anteilsmässig müssen nicht alle gleich viel zu diesem Wachstum beisteuern. Die warme Progression trifft die Reichsten weniger und die Einkommensschwächsten gar nicht, da die ohnehin keine Bundessteuern zahlen. «Die Hauptlast trägt der Mittelstand», sagt Rühli.
Der Avenir-Suisse-Ökonom schlägt vor, dass die «warme Progression» in Zukunft ausgeglichen werden soll - so wie das heute schon bei der «kalten Progression» der Fall ist. Denn heute werden beim Bund die Steuertarifstufen auf Basis des Landesindexes der Konsumentenpreise jährlich automatisch angepasst. Das heisst: Steigen die nominellen Löhne inflationsbedingt, werden auch die Steuertarifstufen nach oben verschoben. Auch die meisten Kantone kennen einen solchen automatischen Ausgleich der kalten Progression. In den Kantonen Appenzell Innerrhoden, Neuenburg, Schaffhausen und St.Gallen hingegen ist er fakultativ.
Um nun nebst der «kalten» auch die «warme Progression» auszugleichen, müssten die Steuerstufen neu an den Nominallohnindex gekoppelt werden, wie Rühli erklärt, anstatt wie heute an den Landesindex der Konsumentenpreise. Der Nominallohnindex sei eine etablierte Statistik, die vom Bund etwa auch zur Berechnung des Mischindexes für die Anpassung der AHV-Renten verwendet werde.
Als Vorbilder für die Anpassung zitieren die beiden Avenir-Suisse-Studienautoren Rühli und Mario Bonato die skandinavischen Länder. Schweden, Norwegen und Dänemark würden die warme Progression bereits seit Mitte der 1990er-Jahre ausgleichen. Steuern und Abzüge würden indexiert und nicht nur mit der Inflation, sondern auch mit der Einkommensentwicklung verknüpft.
Daher weiss ich, wohin das Geld fliesst.