Die Jubiläen folgten sich fast im Jahres-Rhythmus. 2008 feierte Winterthur den 100'000sten Einwohner. 2009 überreichte der Aargauer Landammann Roland Brogli der 600'000sten Einwohnerin einen Geschenkkorb. Im Januar 2014 vermeldete dann die Stadt Zürich den 400'000sten Einwohner, im Oktober der Kanton Freiburg den 300'000sten – und 2015 die Stadt Genf den 200'000sten.
Doch längst freuen sich nicht mehr alle über den Bevölkerungsboom. Ernüchterung ist vor allem im Aargau eingekehrt. «Das grosse Wachstum bedeutet, dass der Aargau ein attraktiver Wohnkanton ist», sagt Regierungsrat Urs Hofmann (SP), Volkswirtschafts-Vorsteher, im Interview. Das sei zwar erfreulich. «Tatsache ist aber, dass diese Entwicklung im Aargau finanziell keine positive Wirkung hatte.» Es kamen vor allem Familien mit Kindern. Das machte Investitionen in Schulen und Lehrpersonen nötig. Auch die Gesundheitskosten stiegen. «Um diese Mehrausgaben finanzieren zu können, müssten wir gleich viel Geld pro Kopf der Bevölkerung einnehmen. Das ist aber nicht der Fall.»
Der Bevölkerungsboom als Wachstumsfalle? Ökonom Reiner Eichenberger ist dieser Meinung. «Zuwanderung ist ein Verlustgeschäft», sagt der Professor für Finanz- und Wirtschaftspolitik. «Das wahre Problem der Zuwanderung sind ihre gewaltigen Kosten.» Der Bundesrat hätte die Pflicht gehabt, diese Kosten zu berechnen. «Das hat er zehn Jahre nach der vollen Personenfreizügigkeit noch immer nicht getan», sagt er. «Er liess stets nur den Arbeitsmarkt untersuchen.» Dass beim Bruttoinlandprodukt pro Kopf zwischen 2008 und 2014 Kantone wie Freiburg, Genf, Zürich und Aargau im Minus sind, die das grösste Bevölkerungswachstum haben, hat Regierungsrat Hofmann stutzig gemacht.
Die Personenfreizügigkeit setzte eine Art Völkerwanderung in Gang, die von den europäischen Staaten in die Schweizer Wirtschaftszentren und von da bis in die kleinsten Gemeinden drang. «Die internationale Einwanderung liess die Preise in den Zentren steigen», sagt Eichenberger. «Und junge Paare mussten dann auf Kantone wie den Aargau ausweichen.»
Die Einwanderung aus dem Ausland erfolgt vor allem in die Wirtschaftszentren. Nimmt der Druck dort zu, kommt es zu einer verstärkten Wanderung in der Schweiz selbst. Besonders davon tangiert sind der Aargau, Freiburg, Baselland und Thurgau. Der Aargau liegt bei der Nettozuwanderung aus dem Inland an der Spitze: Im Schnitt kamen in den letzten fünf Jahren 2035 Personen pro Jahr (und 5074 pro Jahr aus dem Ausland). In den Kanton Baselland wanderten netto 546 Personen pro Jahr aus dem Inland ein und 1512 aus dem Ausland.
Der Vergleich mit den Kantonen Zürich und Basel-Stadt zeigt Erstaunliches. In den Kanton Zürich wanderten in den letzten fünf Jahren pro Jahr netto nur 138 Personen aus dem Inland ein. Aus dem Ausland kamen netto 14'098 pro Jahr. Der Kanton Basel-Stadt hatte gar mehr Weg- als Zuzüger im Inland: 1480 Personen. Aus dem Ausland kamen 2763 pro Jahr.
Die Zuwanderung führt auch zu Verschiebungen in den Kantonen selbst. Im Aargau etwa wachsen die Regionen Lenzburg und Baden, das Freiamt und das Fricktal. Zusätzliche Probleme hingegen bekommen industriell geprägte Gemeinden wie Menziken und Reinach mit einem hohen Bestand an Altbauwohnungen.
Auch Menziken wächst zwar. Die Gemeinde zählt Ende 2017 rund 6150 Einwohner, 150 mehr als zu Jahresbeginn. Kein Wachstum, das den Gemeinderat freut. «Es kommen viele sozial schwache Personen», sagt Gemeindeammann Annette Heuberger. Das hat vor allem mit den Altbauten zu tun. Heuberger: «An vielen wurde in den letzten 48 Jahren nichts gemacht».
Wachstums-Probleme hat auch der Kanton Freiburg zu spüren bekommen. Vor vier Jahren wurde ein Sparprogramm nötig. Der emeritierte Wirtschaftsprofessor Henner Kleinewefers monierte in einer Studie, Freiburg sei zur Banlieue für Bern und Lausanne verkommen – wegen übermässiger Ausdehnung der Bauzonen.
Regierungsrat Olivier Curty betont heute lieber die «Chancen», wenn er über das Bevölkerungswachstum spricht. Zwar habe Freiburg viel Geld in Infrastruktur und Ausbildung gesteckt, um das Wachstum absorbieren zu können. In der Verwaltung gilt ein Personalstopp, ausgenommen für Lehrpersonen. Vor allem dank der Zuwanderung sei aber Freiburg der jüngste Kanton der Schweiz. Für Volkswirtschaftsdirektor Curty langfristig eine «riesige Chance», weil die Unternehmen genügend ausgebildete Arbeitskräfte vorfänden.
Positiv steht man dem Wachstum vor allem in den Wirtschaftsmetropolen gegenüber. Den Politikern sitzt das Trauma der 1990er-Jahre spürbar in den Knochen. Damals hiess es, in den Städten lebten nur noch die «A»s: Arme, Alte und Ausländer. Sie freue sich über das Wachstum, sagte Zürichs Stadtpräsidentin Corine Mauch in der «Berner Zeitung». «Weil es im Kontrast zu schwierigen Zeiten in den 90er-Jahren steht.» Zürich sei damals «eine Stadt im Rückwärtsgang» gewesen.
Mindestens genauso sehr freut man sich im Kanton Basel-Stadt, der ein grosses Auf und Ab kennt bei der Bevölkerungszahl. 1952 überschritt sie erstmals die 200'000er-Marke und erreichte 1970 mit 234'945 Einwohnern das noch immer gültige Höchstmass. 2000 fiel sie auf 188'079 Einwohner.
«Die Zuwanderung in Basel ist glücklicherweise seit rund 15 Jahren wieder positiv, nach einer langen Phase der Abwanderung», sagt Regierungspräsidentin Elisabeth Ackermann. «Basel ist wieder auf einem moderaten Wachstumspfad, der in vielerlei Hinsicht nachhaltig ist.» Ackermann sieht auch finanziell positive Effekte: Die Steuerstatistik der letzten Jahre zeige, «dass der Saldo des Steuerertrags von Zu- und Wegzügern positiv war». Und die Einkommenssteuern hätten sich 2014 um 4,1 Millionen Franken erhöht. «Die Zuwanderung ist ein Zeichen, dass sich die Wirtschaft gut entwickelt und der Kanton zum Wohnen attraktiv ist.»
Ende September 2017 umfasst Basel-Stadt 198'858 Einwohner. 2018 oder 2019 knackt der Kanton wohl wieder die 200'000er-Marke. Mit einer Feier. So viel scheint klar.