Hunderttausende von Angestellten können sich dieses Jahr über mehr Geld im Portemonnaie freuen. Jedenfalls jene 655'000, die einem Gesamtarbeitsvertrag unterstehen. Sie erhalten im Schnitt 2.5 Prozent mehr Lohn, wie das Bundesamt für Statistik mitteilt. Das heisst, ihre Saläre steigen stärker als die prognostizierte Teuerung, wenn auch nur minim. Die Reallohnerhöhung beträgt 0.3 Prozent.
Für alle über fünf Millionen Schweizer Arbeitnehmenden rechnen die Statistiker mit einem durchschnittlichen Lohnplus von 1.8 Prozent. Was zunächst positiv tönt, ist tatsächlich eine wenig erfreuliche Nachricht: Da die Teuerung dieses Jahr bei 2.2 Prozent zu liegen kommen dürfte, büsst der durchschnittliche Angestellte an Kaufkraft ein.
Noch düsterer präsentieren sich die Lohnaussichten für die Lernenden. Viele angehende Berufsleute gehen leer aus. Ein Blick auf die Empfehlungen der Berufsverbände zeigt gar, dass es in unzähligen Lehrberufen seit mehreren Jahren keine Lohnanpassungen mehr gegeben hat.
Die Saläre des Nachwuchses bleiben in den Diskussionen um die Teuerung eine Randnotiz. Nur in wenigen Ausbildungen ist der Lohn überhaupt in den Gesamtarbeitsverträgen geregelt. Zudem besteht kein Anspruch auf einen 13. Monatslohn. Im Vergleich zu den ausgelernten Arbeitskollegen fristen die Lernenden auch statistisch ein Nischendasein: Der Bund führt bisher keine Daten zur Entwicklung der Lehrlingslöhne, plant aber, diese Lücke zu schliessen (siehe Box).
Einen Einblick in die Lohnentwicklung geben die Empfehlungen der jeweiligen Branchen. Dabei handelt es sich zwar um unverbindliche Richtlinien. Dennoch, so betonen alle angefragten Verbände, hielten sich die Unternehmen in der Regel an diese Ansätze.
Ein Lehrberuf, in dem die jungen Erwachsenen seit Jahren mit demselben Lohn über die Runden kommen müssen, ist Fleischfachmann oder Fleischfachfrau. Hier haben sich die Lohnempfehlungen seit 2015 nicht verändert. Der Einstiegslohn im ersten Lehrjahr beträgt 900 Franken. Das heisst: Die Lernenden können sich mit diesem Salär heute 6 Prozent weniger kaufen als noch ihre Vorgänger vor acht Jahren. So hoch ist die kumulierte Teuerung in diesem Zeitraum für einen Durchschnittshaushalt.
Ähnlich ergeht es den angehenden Bäckern und Konditoren. Die Lohnempfehlung des Verbands von 800 Franken im ersten Lehrjahr ist seit Jahren unverändert geblieben. Dasselbe bei einem weiteren beliebten Beruf, Fachfrau Gesundheit. Seit Jahren empfiehlt der Zürcher Kantonalverband den Einstiegslohn von 800 Franken. Man sei daran, für die Lohnansätze zu überprüfen, heisst es auf Anfrage. Auch der Fleischfachverband geht über die Bücher. Und der Verband der Bäcker und Confiseure verhandelt derzeit darüber, die Lernenden neu dem GAV zu unterstellen.
Mehr von ihrem Lohn kaufen können sich Lernende, die eine einflussreiche Lobby hinter sich wissen. Das sind namentlich die Kaufleute und die Detailhandelsfachleute. Zwar hat der Schweizer Kaufmännische Verband seine Lohnempfehlungen zwischen 2018 und 2021 nicht angepasst. Doch seit die Teuerung auch in der Schweiz deutlich spürbar ist, hat er gehandelt und den Einstiegslohn um 30 Franken (+3.9 Prozent) erhöht. Und jüngst hat der Verband für nächstes Jahr eine weitere Korrektur vorgenommen.
Man analysiere die Lohnsituation jährlich, sagt Kathrin Ziltener, Fachverantwortliche Berufsbildung beim Verband. Bei den Empfehlungen berücksichtige man vor allem die Teuerung, die Entwicklung der Gesundheitskosten sowie die derzeit ausbezahlten Lernendenlöhne.
Für Félicia Fasel, Jugendbeauftragte der Gewerkschaft Unia, ist ein solcher Teuerungsausgleich das absolute Minimum. Sie sagt:
Das führe dazu, dass die Eltern ihre Kinder nicht mehr wie gewünscht unterstützen könnten – und dass der Lehrlingslohn nicht mehr für die Grundbedürfnisse wie Essen oder Freizeit reiche, sagt Fasel.
Die Unia hat deshalb kürzlich eine Resolution verabschiedet, in der sie in den jeweiligen Gesamtarbeitsverträgen für Lernende Mindestlöhne, einen 13. Monatslohn und den Teuerungsausgleich fordert. «Lernende werden von vielen Arbeitgebern als billige Arbeitskräfte missbraucht. Sie verdienen einen fairen Lohn, der den Wert ihres Beitrags anerkennt. Darüber hinaus kann ein angemessener Lohn den Mangel an Auszubildenden in bestimmten Berufen beheben, indem er die Ausbildung attraktiver macht», heisst es im Papier. Auch die Jungsozialisten forderten kürzlich einen Mindestlohn von 1000 Franken für Lernende und riefen dazu auf, prekäre Arbeitsverhältnisse zu melden, für eine Art Online-Pranger.
Die Forderungen sind nicht neu. Bereits vor zehn Jahren wurden ähnliche Rufe nach schweizweiten Mindestlöhnen für Lernende laut. Sie dürften auch dieses Mal ungehört verhallen. Denn die Schweizer Berufsbildungslandschaft ist derart kleinteilig und föderal organisiert, dass der Widerstand gegen eine nationale, von oben verordnete Lösung massiv sein wird. Jeder Kantonalverband und jeder Lehrbetrieb gibt die Lohnhoheit nur ungern aus der Hand. Realistischer sind massgeschneiderte Lösungen in den Gesamtarbeitsverträgen.
Einig sind sich die verschiedenen Akteure darin, dass über den Lohn die Attraktivität eines Lehrberufs gesteuert werden kann. Das zeigt sich exemplarisch auf dem Bau, wo der Kampf um Nachwuchs besonders heftig ausgetragen wird. Wer hier die Lohnempfehlungen für einen angehenden Maurer - beginnend bei 957 Franken im ersten Lehrjahr - unterschreitet, wird kaum geeigneten Nachwuchs unter Vertrag nehmen können.
Der Schweizerische Baumeisterverband geht deshalb davon aus, dass die Lohnempfehlungen nicht unterschritten werden. «Die Lernenden sind begehrt, sie können sich einen anderen Lehrbetrieb aussuchen, der einen höheren Lohn zahlt», sagt Sprecher Matthias Engel. Es gebe Beispiele, wo Lernenden monatlich bis zu 2500 Franken angeboten werde.
Allerdings seien diese vergleichsweise hohen Lehrlingslöhne «nur ein Teil des Gesamtpakets», betont Engel. «Noch wichtiger sind die Karrierechancen auf dem Bau, die ermöglichen, rasch in Positionen mit attraktiven Lohnentwicklungen aufzusteigen.» Sein Fazit: «Individuelle Lohnerhöhungen sind in einem von Fachkräftemangel geprägten Arbeitsmarkt immer wichtiger. Sie gewinnen im Gegensatz zu kollektiven Lohnvorgaben an Bedeutung.»
Dieser Lohnwettbewerb stösst spätestens dort an Grenzen, wo die Lehrbetriebe schlicht nicht genug Mittel erwirtschaften, um den Teuerungsausgleich oder einen 13. Monatslohn zu gewähren.
Eine Untersuchung der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) zeigte jedoch, dass sogar in Tieflohnbranchen wie dem Coiffeurgeschäft durchaus noch Spielraum vorhanden wäre. Hier variieren die Löhne im ersten Lehrjahr je nach Kanton von 390 bis 600 Franken.
Mit solchen Lohnkosten ist ein Lernender für den Lehrbetrieb meist ein gewinnbringendes Geschäft. So kostet ein angehender Coiffeur über seine drei Lehrjahre hinweg den Betrieb deutlich weniger, als er an produktiver Arbeit einbringt. Konkret übersteigt beim Coiffeurlehrling der Nutzen die Aufwände des Lehrbetriebs um 20'000 Franken, wie die Studienautoren vorrechnen.
Wie viel dieses «Gewinns» ein Coiffeurgeschäft in höhere Lehrlingslöhne investiert, bleibt bis auf Weiteres seine Sache. Doch auch das zeigte die besagte Studie: Sparen lohnt sich nicht. Springt nämlich der ausgebildete Nachwuchs nach der Lehre sofort ab und bleibt nicht im Betrieb, fressen die Rekrutierungs- und Einarbeitungskosten fast den ganzen «Gewinn» wieder auf. Es bleibt bei einem Nullsummenspiel.
Eine Investition in die Wertschätzung während und unmittelbar nach der Lehre ist somit bereits aus kühl betriebswirtschaftlichem Kalkül lohnenswert.
Kommt hinzu dass die Zahlen des Bundes explodierenden Krankenkassenprämien ignorieren…