Die Ansage war eindeutig: «Wir sind zum Handeln gezwungen und handeln jetzt auch.» Mit diesen Worten begründete die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel am Sonntag den «harten» Lockdown, der am Mittwoch in Kraft treten wird. Deutschland hat wie die Schweiz lange auf relativ milde Massnahmen gesetzt (die allerdings weiter gingen als bei uns).
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Offenbar vergebens, die Fallzahlen sind zuletzt stark angestiegen. Nun betrachtet die Regierung in Berlin im Einklang mit den Bundesländern eine weitgehende Stilllegung des öffentlichen Lebens als «alternativlos». Dabei steht Deutschland im internationalen Vergleich besser da als die meisten anderen Länder, inklusive Nachbar Schweiz.
Bei uns aber setzt man weiterhin auf eine Strategie des Durchwurstelns, wie die Entscheide des Bundesrats vom letzten Freitag zeigen. Läden und Restaurants müssen um 19 Uhr schliessen, doch nach wie vor gibt man sich der Hoffnung hin, man könne den Fünfer und das Weggli haben: Maximalen Gesundheitsschutz und eine weitgehend offene Wirtschaft.
Einigen Ländern in Fernost oder im Norden Europas scheint dies zu gelingen. In der Schweiz aber hat diese vor allem von den Bürgerlichen vorangetriebene Strategie Schiffbruch erlitten. Die Alarmmeldungen aus dem Gesundheitswesen jedenfalls waren in den letzten Tagen nicht mehr zu überhören. Die Lage ist nicht ernst, sie ist prekär.
Die Beanspruchung der Spitäler bleibe weiterhin hoch, «und vor allem das Pflegepersonal ist an seiner Belastungsgrenze», heisst es in einem Brief der Universitätsspitäler von Basel, Bern, Zürich, Lausanne und Genf von letzter Woche an Gesundheitsminister Alain Berset und die kantonalen Gesundheitsdirektoren, über den die «Sonntagszeitung» berichtet hat.
Drei Zürcher Chefärzte wandten sich ausserdem in einem Mail an die «NZZ am Sonntag». «Die Politik hat noch nicht verstanden, wie dramatisch die Situation in den Spitälern ist. Das Gesundheitssystem ist jetzt schon überlastet. Seit Wochen», lautet ihre zentrale Aussage. Ihre schwierige Lage illustrieren die Kliniken mit einigen Nicht-Corona-Beispielen.
So musste das Universitätsspital Zürich letzte Woche eine dringliche Operation eines jungen Tumorpatienten verschieben, sagte Direktor Gregor Zünd der «Sonntagszeitung». Und im Triemli-Spital wurde laut «NZZ am Sonntag» ein Patient mit einem Aortariss – ein akuter Notfall – operiert, der zuvor an mehreren Spitälern wegen Platzmangel abgewiesen wurde.
Mit anderen Worten: Man sollte derzeit besser nicht schwer krank werden oder einen Unfall haben. Eine adäquate Behandlung ist in der eigentlich mit Spitälern überversorgten Schweiz nicht gesichert. Zu viele Covid-Patienten müssen versorgt werden.
Die bürgerliche Schweiz aber tut sich schwer mit dieser Erkenntnis. Das beginnt bei den üblichen SVP-Verdächtigen (Andreas Glarner, Erich Hess, Roger Köppel), die sich in den sozialen Medien darüber echauffieren, dass die Bäckereien am Sonntag schliessen müssen, oder das «Todesurteil» für Gaststätten und Läden beklagen.
Auch die FDP protestierte in einem offenen Brief «an unsere MitbürgerInnen» gegen die neuen Massnahmen des Bundesrats. Noch immer scheint das von Finanzminister Ueli Maurer (SVP) vorgegeben Narrativ zu gelten, wonach nicht nur die Gesundheit wichtig sei, sondern auch die Wirtschaft leben müsse, wie er in der SRF-«Samstagsrundschau» sagte.
Bundesrat schliesst am Sonntag die Bäckereien. Lächerlich. Eine Frechheit. Nicht mal ein schönes Familienfrühstück mit frischem Brot gönnen sie uns.
— Roger Köppel (@KoeppelRoger) December 11, 2020
Dabei zeigt sich nun in aller Deutlichkeit, dass die Schweizer Fünfer-und-Weggli-Politik in Wirklichkeit eine Weder-Fisch-noch-Vogel-Strategie ist, wie Grünen-Präsident Balthasar Glättli im watson-Interview ausführte: «Man würgt die Wirtschaft trotzdem ab und lässt vielen Unternehmen zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben.»
Darüber klagte auch Gastrosuisse-Präsident Casimir Platzer am letzten Freitag, als er die neuen Einschränkungen als «Tod auf Raten» bezeichnete. Platzers Äusserungen sind häufig grenzwertig, in der Sache aber liegt er richtig. Den Beizen und anderen Branchen würde ein Lockdown mit Entschädigung mehr bringen als die Salamitaktik der Politik.
Politisch lässt sich der Gegensatz nicht einfach auf das Links-Rechts-Schema herunterbrechen. Das zeigt sich in der Zürcher Kantonsregierung. Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli (SVP) wirkt wie eine Stimme der Vernunft, während die SP-Fehrs Jacqueline und Mario durch Statements auffallen, mit denen sie an Skeptiker-Demos auftreten könnten.
Insgesamt aber entspricht diese Linie dem bürgerlichen Credo vom schlanken Staat, der wenig Geld ausgeben soll. Bundesrat Maurer schwadronierte am Freitag über den Schuldenberg, auf dem man Olympische Spiele durchführen könne. Dabei muss die Eidgenossenschaft keinen Zins zahlen, wenn sie neue Schulden aufnimmt, sie bekommt Geld dafür.
So steuern wir direkt auf einen neuen Lockdown zu. Alain Berset und Lukas Engelberger, der Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektoren, bereiteten am Montag das Terrain vor, indem sie eine weitere Verschärfung der geltenden Massnahmen ankündigten. Berset platzierte dazu einen vielsagenden Verweis auf die Vorreiterrolle der Westschweiz.
In den Spitälern rennen sie offene Türen ein. «Es braucht einen schweizweiten Shutdown. Darum werden wir nicht herumkommen», sagte Gregor Zünd der «Sonntagszeitung». «Meine Angst ist, dass eine gewaltige Covid-Welle kommt, wenn die Leute Weihnachten feiern und Skifahren gehen», betonte Robert Rhiner, Direktor des Kantonsspitals Aarau.
Die Furcht ist berechtigt, wie die Erfahrungen der USA mit Thanksgiving Ende November zeigen, dem wichtigsten Familienfest des Landes. Trotz eindringlicher Warnung reisten viele Menschen zu ihren Angehörigen, worauf die Zahl der Covid-Todesfälle Ende letzter Woche auf rund 3000 pro Tag anstieg. Das lässt für die Feiertage nichts Gutes erwarten, wenn man untätig bleibt.
Der Lockdown wird kommen, in welcher Form auch immer, vermutlich schon am Freitag. Deutschland macht es vor. Die Frage ist nur, ob es dann nicht schon zu spät ist.