Herr Seifert, ich habe einen Text über meine Grossmutter im Altersheim geschrieben, den ich mit dem Satz begann: Ich mache mir Sorgen um eine gesamte Generation. Teilen Sie diese Sorge?
Kurt Seifert: Ja. Das Virus trifft insbesondere ältere Personen und solche mit Vorerkrankungen. Ich sehe es positiv, dass sich die Gesellschaft durchaus solidarisch zeigt mit den Angehörigen vulnerabler Zielgruppen. Sorgen mache ich mir, wenn ich in die Zukunft schaue. Bis ein Impfstoff oder ein wirksames Covid-19-Medikament gefunden ist, wird es weiterhin nötig sein, die Vulnerablen zu schützen. Für sie bedeutet das, dass bestimmte Grundrechte oder alltägliche Gewohnheiten, soziale Kontakte mit Angehörigen weiterhin sehr stark eingeschränkt werden.
Als ich so über meine Grossmutter nachdachte, hab ich mich immer wieder gefragt: Wie könnte man das denn besser regeln? Natürlich finde ich es gut, dass alte Menschen vor dem Virus geschützt werden. Gleichzeitig sehe ich, dass die Isolation ein riesiges Problem darstellt. Wie sehen Sie das?
Ich bin weder Mediziner noch Virologe und kann darum von der fachlichen Seite her nicht beurteilen, welche Form der Isolation notwendig ist. Aber die Krise macht deutlich, wo in unserer Gesellschaft die Probleme liegen. Und eines davon ist der Personalmangel in Alterseinrichtungen. Wenn sich die Angestellten aufgrund der Schutzkonzepte intensiver um die einzelnen Personen kümmern müssen, dann stossen sie schnell an die Grenze des Personalschlüssels. Durch die Zugangsbeschränkungen wird der menschliche Kontakt in den Institutionen stark auf das angestellte Personal reduziert. Auch wenn sich dieses sehr bemüht, das würde ich nicht bestreiten, kann das Personal das nicht so bewältigen, wie es für die Bewohnerinnen und Bewohner am besten wäre.
Der französische Philosoph Didier Eribon sinniert in seinem «Brief aus Frankreich» über die Situation der alten Menschen in der Coronakrise. Sie sterben zu Tausenden, sind allein und isoliert in ihren kleinen Zimmern in den Altersheimen und haben keine Möglichkeit auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Liegt da der Hund begraben? Fehlt diesen Alten eine Stimme in der Öffentlichkeit?
Das ist sicherlich ein wichtiger Punkt. Die Coronakrise zeigt, dass es Lobbygruppen gibt, die stärker und solche, die schwächer sind. Und dass es Bevölkerungsteile gibt, die gar nicht oder nur sehr wenig vertreten sind. Es gibt Stiftungen oder Fachorganisationen, die sich bemühen, das Thema an die Öffentlichkeit zu bringen. Aber es ist klar, dass die Gruppe der besonders verletzlichen Personen, diejenigen ist, die – um es jetzt mal zynisch auszudrücken – eine gesellschaftliche Last darstellt. Im Unterschied zu den noch jüngeren Alten, die in normalen Zeiten reisen, konsumieren und deshalb für den Markt durchaus interessant sind, bedeuten die Vulnerablen einen finanziellen und personellen Aufwand. Die Gefahr, dass sie aus dem gesellschaftlichen Diskurs verdrängt werden, ist gross.
Bedeutet das: Weil diesen Menschen zu wenig Aufmerksamkeit zukommt und sie wirtschaftlich nicht mehr attraktiv sind, kümmert man sich zu wenig um sie?
Ob es zu wenig ist, darüber müssen wir eine gesellschaftliche und politische Debatte führen. Eribon setzt sich in seinem «Brief aus Frankreich» damit auseinander, was mit Menschen passiert, die am gesellschaftlichen Rand stehen. Dass eine Krise wie diese deutlich macht: Es gibt Menschen, die nicht über genügend finanzielle Mittel verfügen, die kein Netzwerk haben, die darauf angewiesen sind, dass es einen Sozialstaat gibt, der sie unterstützt. Dass sie darum auf Solidarität angewiesen sind, damit sie auf ihre Situation aufmerksam machen können. Und dann kann man darüber diskutieren, wie der Sozialstaat aufgestellt werden muss, um diesen vulnerablen Personen nicht nur das Überleben, sondern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.
Gleichzeitig hat man ja nicht das Gefühl, dass ältere Menschen zu wenig zu sagen haben. In der Schweizer Politik und Wirtschaft sind sie bestens vertreten.
Da muss man sozial differenzieren. Die alten Personen mit politischer oder wirtschaftlicher Macht gehören der Elite der Gesellschaft an. Die hatten schon vorher viel zu sagen und sind auch nach ihrem beruflichen Ausstieg gut vernetzt geblieben. Die Generation der über 80-Jährigen ist vor allem eine weibliche. Diese Frauen haben zwar durchaus profitiert vom wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg, aber was ihre politische und gesellschaftliche Rechte anbelangt, waren sie in ihrer Jugend stark vom Patriarchat geprägt. Das Frauenstimmrecht wurde erst 1971 eingeführt, bis 1988 galt das alte Eherecht. Diesen Frauen fehlt damals wie heute eine starke Lobby.
Trotzdem sind viele Junge der Ansicht, dass alte Menschen zu viel Macht haben. Sie sagen: Wegen ihnen wurden tiefgreifende Massnahmen ergriffen, die uns wirtschaftliche Nachteile gebracht haben.
Das billige Argument gegen diesen Vorwurf lautet: Es ist auch eine Frage der politischen Beteiligung. Junge beteiligen sich an Abstimmungen und Wahlen eher wenig, während sich Ältere überdurchschnittlich einbringen. Wenn also die Jungen kritisieren, dass die Alten zu viel Macht haben, dann sollten sie sich fragen, warum das so ist.
Die Jungen fürchten, einmal mehr die Kosten einer Krise der Alten berappen zu müssen.
Ich halte das Schema der «Alten», für die man all die Massnahmen ergriffen hat und der «Jungen», die nun die Last der Krise tragen müssen, für falsch. Die Alten hat man nicht nur um ihrer selbst willen geschützt. Nicht auszudenken, welch gesellschaftliches Drama es wäre, wenn man die Alten einfach hätte sterben lassen. In den USA bekommt man eine Ahnung davon, was das für die Bevölkerung bedeutet. Über 100'000 Menschen sind in den vergangenen Wochen am Coronavirus gestorben. Im Vietnamkrieg kamen 60'000 Amerikaner um. Damals sahen wir, dass das eine Gesellschaft nicht einfach so wegsteckt. Was ich damit sagen will: Die Jungen dürfen nicht vergessen, dass es nicht ganz uneigennützig ist, dass man die Alten schützt. Die Krise verursacht auch moralische Kosten.
Und was ist mit den wirtschaftlichen Kosten?
Die Diskussion um die wirtschaftliche Lastenaufteilung dieser Krise ist noch nicht ausgestanden, geschweige denn überhaupt angestossen worden. Es kann nicht sein, dass die Last auf alle gleichmässig verteilt wird. Wer breitere Schultern hat, muss mehr tragen. Aber da müssen sich jetzt die Jungen einbringen und fordern, dass die alten Reichen ihren Beitrag leisten. Mit ihrem Vermögen könnte diese Krise locker abgefedert werden. Modelle, wie man das tun könnte, gibt es genug. Zum Beispiel müsste über eine Erbschaftsteuer oder eine Vermögensabgabe diskutiert werden. Aber wie das bewerkstelligt wird, hängt von den politischen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen ab.
Sprechen wir über alte Menschen, so geht es oft um Geld. Ergänzungsleistung, Altersvorsorge, Betreuungskosten …Stehen die Alten heute vor allem als Kostenverursacher da?
Wer nur die Momentaufnahme anschaut, der sieht das vielleicht so. Wenn wir uns die Langzeitaufnahme ansehen, erkennen wir, dass alte Personen ihr Leben lang gearbeitet, AHV-Beiträge geleistet und – wenn sie Glück hatten – in eine zweite Säule eingezahlt haben. Vor allem aber haben viele Alte, die jetzt in einem Pflegeheim leben, noch vor zehn, zwanzig Jahren ihre Enkel gehütet und damit eine wichtige, unbezahlte Betreuungsarbeit geleistet. Viele Familien sind darauf angewiesen, dass die Grosseltern bei der Erziehung und Betreuung der Kinder mithelfen. Müssten sie diese Arbeit bezahlen, würde sich das stark auf das Familienbudget auswirken. Bei der Diskussion über die Kosten und Nutzen von alten Menschen ist dieser globale Blick auf die Gesamtrechnung sehr wichtig.
Welchen Stellenwert kommt denn heute der alten Generation in unserer Gesellschaft zu?
Weil die Lebenserwartung immer mehr ansteigt, nimmt insbesondere die Zahl der sogenannt jungen Alten zu. Dabei handelt es sich um gesunde, aktive, autonome Alte in den Jahren nach ihrer Pensionierung und vor der Zeit in einer betreuten Institution. Weil sie immer mehr werden sind sie sichtbarer, interessanter als Konsumentinnen und Konsumenten und sie haben mehr gesellschaftliche und politische Macht. Das negative Bild vom Alter verschiebt sich sozusagen nach hinten. Die vulnerablen alten Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind und Pflege benötigen, werden zunehmend entwertet.
Welchen Einfluss hat die Coronakrise auf diese Kosten- und Nutzenfrage von alten Menschen in unserer Gesellschaft?
Was uns diese Krise so deutlich zeigt, ist, wie verletzlich wir selbst und die gesamte Gesellschaft sind. Wir alle sind dem Virus ausgesetzt und wir alle sind in einer Form vulnerabel. Die Einen mehr, die Anderen weniger. Die Krise hält uns ein Spiegel vor, Jungen, Alten, Männern, Frauen, dass wir verletzliche und endliche Wesen sind – und keine Supermenschen. Die Frage, die sich in einer Krise wie dieser stellt, ist die folgende: Wie geht die Gesellschaft mit dieser Verletzlichkeit um? Die Krise bietet eine gute Gelegenheit, diese Debatte neu zu verhandeln.
Passiert das Ihrer Meinung nach?
Einiges wurde bereits andiskutiert. Zum Beispiel hat man gemerkt, dass es eben nicht nur Banken oder das Finanzwesen sind, die als systemrelevant gelten, sondern dass wir ohne personenbezogene Dienstleister, ohne das Pflegerische und Medizinische schnell an unsere Grenzen kommen. Das könnte eine neue Aushandlungsprozesse darüber auslösen, wie die gesellschaftliche und finanzielle Gewichtung der einzelnen Bereiche verteilt werden. Zudem stellt sich die Frage, wie wir möglichst allen Menschen ein möglichst gutes Leben ermöglichen können. Dass wir Mindeststandards definieren, die über das Motto «sauber, satt und warm» hinausgehen. Weil uns die Krise gezeigt hat, dass die Menschen mehr brauchen. Vor allem alte, vulnerable. Sie wollen als Menschen wahrgenommen werden, mit ihrer Geschichte und dem, was sie auch jetzt noch zu sagen haben.
Ein möglichst gutes Leben für alle. Was ist dazu nötig?
Dass ein Teil des gesellschaftlich produzierten Wohlstands über den Staat umverteilt wird, dass Risiken wie Arbeitslosigkeit oder Sicherung des Einkommens im Alter kollektiv getragen werden können. Wie stark sind wir nach der Krise bereit, die Absicherung der kollektiven Risiken kollektiv zu übernehmen? Von der Beantwortung dieser Fragen hängt es ab, in welchem Zustand unsere Gesellschaft künftig sein wird.
Für jemanden der sein ganzes Leben frei war, ist das Alters und Pflegeheim eine schlechte Option. Dazu kommt mit Exit eine Möglichkeit seinen Lebenabend zu verkürzen, sollter er unhalbar werden.
Ich bin Kinderlos 60, in ein paar Jahren Pensioniert. Wenn ich dann als Risikogruppe eingesperrt werde und z.B. keine Möglichkeit mehr habe am Leben dort draußen Teil zu nehmen, kommt die Sinnfrage aber sehr schnell.
Danke für den Artikel!
Die sind noch lange nicht alle dement.