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Zwangsferien und Quarantäne: Die Corona-Auswirkungen auf das Arbeitsrecht

Die Talfahrt im Schweizer Detailhandel hat auch im Januar angehalten. (Archiv)
Welche Rechte haben Arbeitnehmende, die kein Home-Office machen können, in Zeiten von Corona? Bild: KEYSTONE

Darf mein Arbeitgeber mich zum Pendeln zwingen? Das sagt die Arbeitsrechtlerin

Zahlreiche Firmen haben ihren Mitarbeitenden Home-Office angeordnet. Doch was ist mit denen, die immer noch zu Stosszeiten pendeln müssen? Die Arbeitsrechtsspezialistin Michèle Stutz beantworten die drängendsten Fragen.
13.03.2020, 12:3613.03.2020, 20:54
Helene Obrist
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Frau Stutz, kann mich meine Chefin trotz des Coronavirus zwingen, während Stosszeiten zu pendeln, um im Büro anwesend zu sein?
Michèle Stutz: Die Arbeitgeberin hat eine Fürsorgepflicht gegenüber den Arbeitnehmenden, die sie wahrnehmen muss. Das heisst: Sie muss deren Gesundheit schützen. Aktuell sollte der Arbeitgeber somit eher eine Weisung rauslassen, wonach das Pendeln zu Stosszeiten möglichst vermieden werden soll. Hier ist aber auch Flexibilität und Kreativität von beiden Seiten gefragt.

«Verletzt der Arbeitgeber seine Fürsorgepflicht, könnte er schadenersatzpflichtig werden.»
Michèle Stutz

Das heisst konkret?
Vielleicht gibt es die Möglichkeit, dass man früher oder später zum Arbeitsort anreist oder auf das Velo umsteigt, um die Stosszeiten im ÖV zu vermeiden. Bei zwingend fixen Arbeitszeiten, beispielsweise im Verkauf, kann die Arbeitgeberin womöglich auch gewisse Schichten abtauschen unter Berücksichtigung des Arbeitsweges und Anreisemöglichkeiten (Velo, Auto, zu Fuss) der Mitarbeiter.

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Michèle Stutz ist Arbeitsrechtsspezialistin beim Unternehmen MME Legal Tax Compliance.
Michèle Stutz ist Arbeitsrechtsspezialistin beim Unternehmen MME Legal Tax Compliance. bild: zvg

Wie sieht der Fall aus, wenn es sich um Mitarbeiter über 65 oder um solche mit chronischen Erkrankungen oder geschwächtem Immunsystem handelt?
In diesem Fall ist das Schutzbedürfnis dieser Arbeitnehmerinnen definitiv höher, das heisst, es ist bei der Einsatzplanung noch mehr Rücksicht auf sie zu nehmen. So werden ältere Mitarbeiter zum Beispiel an der Kasse in vielen Betrieben bereits jetzt in anderen, nicht so exponierten Funktionen eingesetzt. Verletzt der Arbeitgeber seine Fürsorgepflicht, könnte er schadenersatzpflichtig werden. Insbesondere dort, wo die Möglichkeit für Home-Office besteht, sollten Arbeitnehmer in der Risikogruppe angewiesen werden, von zu Hause aus zu arbeiten. Erst recht kann man sie in diesem Fall nicht zwingen, zur Arbeit zu kommen. Vor allem nicht, wenn solche Personen in einem Grossraumbüro arbeiten oder zu Stosszeiten pendeln müssten.

Es gibt viele Branchen, in denen Home-Office nicht möglich ist. Was sollen die Betriebe tun?
Dem Detailhandel raten wir beispielsweise, besonders schutzbedürftige Personen von der Front zu nehmen und möglichst auf Kundenkontakt zu verzichten. Womöglich gibt es Arbeiten im Backoffice oder im Lager, die erledigt werden können. Auch bei Mitarbeitern, welche nicht zur Risikogruppe gehören, werden heute bereits an vielen Orten Plexiglaswände als Schutz aufgestellt.

Wenn ich mich weigere, bei der Arbeit zu erscheinen, stattdessen Home-Office mache und mir meine Chefin dann kündigt, wäre diese Kündigung dann überhaupt gültig?
Man müsste die Fälle natürlich wie immer genau einzeln betrachten. Gültig wäre die Kündigung zwar, ich denke aber, dass sie in solch einem Fall missbräuchlich und damit entschädigungspflichtig wäre, falls die Arbeit tatsächlich problemlos über Home-Office machbar ist.

Das Bundesamt für Gesundheit rät derzeit den Arbeitgeberinnen, erst nach fünf Tagen Krankheit ein Arztzeugnis zu verlangen. Was, wenn mein Chef dennoch nach drei Tagen ein Zeugnis verlangt?
Der Arbeitgeber darf wohl darauf beharren. Die fünf Tage-Regel vom Bundesamt für Gesundheit ist keine gesetzliche Vorgabe, sondern eine Empfehlung. Es wäre aber unvernünftig, vom Arbeitgeber auf ein Zeugnis nach drei Tagen zu beharren, da viele Ärzte derzeit gar nicht die Kapazität haben, genügend früh ein Zeugnis auszustellen und dies das Gesundheitssystem nur mehr belasten würde.

Lohn trotz Quarantäne? «Wenn Sie freiwillig nach Asien gereist sind, wird das schwierig.»

Angenommen ich arbeite im Home-Office und muss mit meinem privaten Telefon Anrufe tätigen. Muss meine Arbeitgeberin die Kosten dann übernehmen?
Da ist die Situation etwas komplizierter. Angenommen, die Arbeitgeberin erteilt die Weisung, im Home-Office zu arbeiten, dann sind die Telefonkosten als notwendige Auslagen zu ersetzen, wenn die Arbeitgeberin nicht sowieso schon einen Teil der Abonnementskosten bezahlt. Leistet die Arbeitnehmerin hingegen Home-Office auf eigenen Wunsch, obwohl sie noch zur Arbeit erscheinen könnte, sind diese Auslagen nicht «notwendig» und daher nicht zu ersetzen. Überdies kommt es bezüglich Arbeitsmittel (Laptop, Drucker) auf die vertragliche Abmachung an. Falls vertraglich vorgesehen, hat der Mitarbeiter für diese Kosten aufzukommen.

Rechtsexperte klärt auf - vorsorglich zuhause bleiben

Video: srf/SDA SRF

Wie sieht es mit Reisen ins Ausland aus. Nehmen wir an, ich komme gerade von einer Asienreise zurück und mein Arbeitgeber hat mir zehn Tage Quarantäne verordnet. Habe ich Anrecht auf meinen Lohn?
Wenn Sie freiwillig nach Asien gereist sind, wird das schwierig. Können Sie von zu Hause aus arbeiten, muss der Arbeitgeber selbstverständlich zahlen. Fällt die Option für Home-Office weg, weil Sie beispielswiese Arzt sind, muss der Arbeitgeber keinen Lohn bezahlen. Hier liegt die Verhinderung an der Arbeit in der Risikosphäre des Arbeitnehmers.

Und bei Geschäftsfreisen?
Anders sieht es aus, wenn Sie in der gleichen Konstellation von einer Geschäftsreise zurückkommen: Hier wäre der Lohn geschuldet, auch wenn keine Möglichkeit für Home-Office besteht. Hier liegt die Verhinderung an der Arbeit klar in der Risikosphäre der Arbeitgeberin.

Darf mich mein Arbeitgeber überhaupt noch ins Ausland schicken?
Das ist aktuell problematisch und kommt natürlich stark auf die Destination an.

Bei vielen Betrieben ist wegen des Coronavirus derzeit Flaute. Können diese Firmen ihre Mitarbeiterinnen in die Zwangsferien schicken?
Eigentlich müssen Ferien mit einer relativ langen Frist von drei Monaten angeordnet werden. Ist der Betrieb aber in seiner Existenz gefährdet, dann überwiegt womöglich das Interesse des Arbeitgebers und die Zwangsferien wären rechtens. Eine elegantere Lösung könnte hier die Kurzarbeit sein, eventuell in Kombination mit dem Abbau von Überstunden.

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30 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Bee89
13.03.2020 13:42registriert Mai 2018
Ich habe echt Mühe mit der Aussage, dass man doch "einfach" die Stosszeiten des ÖV meiden soll.
Stosszeiten sind mittlerweile viel zu lange, als dass man diese meiden kann.

Ich bin morgens um 7 im Büro, da sind die Busse schon gut gefüllt, aber noch vertretbar. Dann arbeite ich meine 8.2 Stunden und kann gegen 16.30 gehen - mitten in der Stosszeit.
Also entweder ich komme um 6 oder muss Abends bis um 19 Uhr bleiben..
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Atavar
13.03.2020 14:02registriert März 2020
In den für mich relevanten Antworten von Frau Michèle Stutz (Pendeln, Homeoffice, Zwangsferien) steckt so viel Konjunktiv, dass ich ungefähr gleich schlau bin wie zuvor. Natürlich muss man darauf vertrauen, dass beide Parteien (AN und AG) ihre Pflichten wahrnehmen.

Ist natürlich auch schwierig etwas Abstraktes wie das Recht auf sehr offene Fragen zu konkretisieren.

Vertrauen und Kulanz zwischen AG und AN (und vice versa), das wär was!

Tja, die unterentwickelte Schwarmintelligenz unserer Spezies in der gesamten Situation wird von einer Schwäche zu einem echten Bremsklotz.
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Theor
13.03.2020 13:08registriert Dezember 2015
"Gültig wäre die Kündigung zwar, ich denke aber, dass sie in solch einem Fall missbräuchlich und damit entschädigungspflichtig wäre..."

Damit ist die Diskussion ja eigentlich schon todgeschlagen. Man verliert den Job und hat einen Arbeitsplatzverlust wegen Fristloser missbräuchlicher Kündigung im Lebenslauf. Und darf sich dann mit 55+ (Annahme wegen laufender Risikogruppe) einen neuen Job suchen, den man bestimmt spielend leicht wieder findet.

Aber immherhin kriegt man als Entschädigung drei Monatslöhne wegen der festgestellten Missbräuchlichkeit.

[/Ironie off]
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