Es war ein Satz wie ein Fluch. «Kauf mal etwas Schönes zum Anziehen», sagte die Mutter zu Maja Meier*. Damals, 1985, als Meier gerade das Medizin-Studium abgeschlossen hatte und ihre Karriere in der Pharma-Branche startete. Und als 25-Jährige noch gar nicht wusste, was sie mit ihrem Lohn überhaupt anstellen sollte. «Kauf dir mal.» Eigentlich nur ein Satz, ein Vorschlag, so dahingesagt.
Bös gemeint hatte es die Mutter kaum. Meier erinnert sich an «viel Liebe» in ihrem Elternhaus. Vielleicht etwas leistungsorientiert der Vater, der stets Bestnoten wünschte. Und die Maja Meier, die Bilderbuchtochter, gerne lieferte: «Ich war ein Papakind.» Der Vater mochte Schuhe von Bally, die Mutter hüllte sich in Designer-Mäntel. «Das hatte mich damals nicht interessiert», sagt Meier. Doch 1985 begann etwas Neues.
Es endete 2014, mit einem Lagerraum voller Kleider und über einer Million Franken Schulden. Ursprünglich begab sie sich wegen eines Burn-outs in Behandlung. Dass sie aber nicht nur unter ihrem Leistungswillen litt, zeigte sich schnell. Zu ihrer Psychiaterin sagte Meier einmal: «Andere haben Freunde, ich habe meine Kleider.»
Laut Bundesamt für Gesundheit zeigt 8 Prozent der Bevölkerung ein problematisches Kaufverhalten. Die Betroffenen kaufen beispielsweise ein, um ihre Stimmung zu ändern. Oder stellen sich ständig vor, wie sie einkaufen. An einer Oniomanie, an Kaufsucht, leiden etwa 5 Prozent – also 450'000 Menschen in der Schweiz. Zum Vergleich: Etwa 250'000 bis 300'000 Menschen sind alkoholabhängig.
Dass Maja Meiers Sucht jahrelang übersehen wurde, ist bezeichnend. «Shopping ist eine der wichtigsten Verhaltensweisen unserer Konsumgesellschaft», sagt Renanto Poespodihardjo. Der Psychologe leitet das Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen der Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel. Gemäss seiner Erfahrung ist es für viele unvorstellbar, Einkaufen könnte süchtig machen, gar schädlich sein.
Im Gegensatz zu Alkohol- oder Spielsucht ist Kaufsucht keine anerkannte Krankheit. Obwohl Fälle wie der von Maja Meier die Kriterien einer krankhaften Sucht erfüllen. Poespodihardjo spricht von «drei Säulen»:
«Einige müssten es damals bemerkt haben», sagt Meier. Schliesslich war sie selten alleine auf Dienstreisen. Kaum ohne Kollegen an den Flughäfen, in Kopenhagen, Rom und Barcelona, wo sie Einkaufstaschen mit Kleidern diverser Luxusmarken füllte. Besorgte Stimmen gab es zwar.
Mal eine Kollegin, die auf einer Shopping-Tour wissen wollte, ob sie sich wegen Meiers vieler neuer Kleider Sorgen machen müsse.
Mal eine Verkäuferin, die fragte: «Brauchen Sie das denn wirklich, Frau Meier?»
Die Stimmen drangen nicht zu Meier durch. Andere nannten sie immerhin die bestgekleidete Frau im Unternehmen. Und Verkäuferinnen an der Bahnhofstrasse in Zürich begrüssten sie mit drei Küsschen.
«Mir fehlten Freunde», sagt Meier heute. Neben der Arbeit pflegte sie keine Freundschaften, ersetzte soziale Interaktionen mit Rabatt-Aktionen. Ihr engster Vertrauter war ihr Vater. «Du bist nicht kaufsüchtig», sagte er. Seine Bilderbuchtochter eine Süchtige, das wollte er nicht wahrhaben. Irgendwann sprachen sie einfach nicht mehr darüber. Aber er gab ihr immer wieder Geld, mit dem sie einige Schulden beglich.
Nach ihrem Burn-out begab sich Meier erneut in Behandlung. Diesmal in Basel, drei Monate stationär bei Renanto Poespodihardjo. Beim Eintritt musste sie ihre «Elle» und «Vogue» einer Schwester abgeben – die Modezeitschriften hatte sie zur Lektüre mitgebracht. Ihre Kleider stopfte man in einen Sack. Jeden Tag zog eine Schwester ein zufälliges Outfit für Meier daraus hervor. «Das Interessante: Es sah immer noch gut aus.»
2015 zog Meier aus der Grossstadt in ein 3000-Seelen-Dorf. Die Entschleunigung ihres Lebens sollte auch die Sucht drosseln. Sie blieb ein Jahr kauffrei. Doch der Tod des Vaters warf sie, das Papakind, aus der Bahn. Sie wurde rückfällig. «Aber auf einem niedrigeren Level.» Sitzungen mit Poespodihardjo und einer Selbsthilfegruppe verhinderten Schlimmeres.
2020 gewann sie einen jahrelangen Rechtsstreit. Sie erhielt fortan eine Invalidenrente, dazu eine rückwirkende Auszahlung für die vergangenen Jahre. Damit tilgte sie einen Grossteil ihrer Schulden. Die Rente bekam sie nicht wegen ihrer Kaufsucht – sondern weil sie an Spondylarthropathie leidet.
Die Autoimmunkrankheit greift ihre Gelenke an. Jetzt, mit 65 Jahren, hat sie bereits Probleme beim Gehen. Das Humpeln passt nicht zu ihrer jugendlichen Erscheinung: Die rote Jacke ist auf das rote Blumenmuster des Kleides abgepasst, dazu ein roter Schal, ein roter Haargummi, rote Schnürsenkel. «Und passende Söckchen.» Mit Glitzersteinen, ebenfalls in Rot.
Die «Söckchen» sind erst wenige Wochen alt, erzählt Meier beim Gespräch in einem Café. Dabei nimmt sie Käsekuchen zu sich, zur Stärkung, und Voltaren Rapid 50 Gramm gegen die Gelenkschmerzen. Heute kauft sie Kleider auch aus zweiter Hand. Oder bei Schlussverkäufen. Die Werbung im Internet und Online-Shops machen ihr eine Abstinenz fast unmöglich.
«Ich habe einfach nie gelernt, mit Geld umzugehen», sagt Meier. Ein Beistand wacht über ihre Finanzen, überweist ihr einmal im Monat einen Betrag. Die Tage vor Monatsende wird es oft knapp. Die ehemalige Jetsetterin bezeichnet sich heute als Lebenskünstlerin. Und statt über Shopping-Meilen, spaziert sie heute im Wald und pflegt Freundschaften. (aargauerzeitung.ch)
(Soll nicht heissen, dass der Staat die Schulden übernehmen soll! Aber bessere Massnahmen wenn jemand droht zu überschulden wären schon lange angebracht.)