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Zürichs Boom: Wie Aussersihl die Stadt zur Grossstadt katapultierte

Joseph Strasse Zürich - belebte Strasse mit Eingang zu "Zu den vier Jahreszeiten", Poststempel: 15.11.1909.
Die Josefstrasse im Zürcher Industriequartier zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bild: Sozialarchiv/unbekannt/F 5068-Ka-1838

Boomtown Zürich – wie die Limmatstadt dank Aussersihl zur Grossstadt wurde

Um 1860 hatte Zürich knapp 20'000 Einwohner. Gut 30 Jahre später waren es mehr als 120'000 – damit war Zürich die erste Schweizer Grossstadt.
23.08.2025, 17:3023.08.2025, 17:30
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Zürich ist heute mit deutlichem Abstand die bevölkerungsreichste Stadt der Schweiz. Das war nicht immer so. Vom Spätmittelalter bis tief ins 19. Jahrhundert hinein hatten Basel und Genf mehr Einwohner. Und im Jahr 1892 war die Limmatstadt mit rund 28'000 Einwohnern sogar gleichauf mit Winterthur nur die zweitgrösste Ortschaft im Kanton Zürich. Spitzenreiter war die benachbarte Gemeinde Aussersihl mit 30'000 Einwohnern.

Aussersihl, das bis 1787 Teil der Gemeinde Wiedikon gewesen war und dann als «Ausser-Sihl- Gemeind» selbständig wurde, liegt nördlich von Wiedikon im Gebiet westlich der Sihl; aus Sicht der alten Stadt Zürich auf der anderen Seite des Flusses. Erst 1893 wurde die Gemeinde mit der Stadt Zürich vereinigt. Danach bildete Aussersihl mit Wiedikon den Kreis III., bis es 1913 zum heutigen Kreis 4 wurde. Das bis dahin zu Aussersihl gehörige Industriequartier wurde bei dieser Gelegenheit abgetrennt und bildete den Kreis 5.
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Die Gemeinde Aussersihl, damals noch mit dem Industriequartier, innerhalb des Bezirks Zürich vor der Eingemeindung 1893. Die Stadt Zürich umfasste vor der Fusion lediglich den heutigen Kreis 1. Bild: Wikimedia/Tschubby/watson

Enormer Wachstumsschub

Dieser Zustand war das Ergebnis einer turbulenten Entwicklung. Nur gut 30 Jahre zuvor, um 1860, hatten gerade knapp 2600 Menschen in Aussersihl gewohnt, während die Stadt Zürich damals bereits knapp 20'000 Einwohner hatte. Um 1910 zählte das mittlerweile in Zürich eingemeindete Aussersihl schon mehr als 50'000 Einwohner. Dieser enorme Wachstumsschub, den auch andere Schweizer Städte erfuhren, war das Resultat von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen.

Karte von Zürich und Umgebung aus dem Jahr 1800
https://de.wikipedia.org/wiki/Aussersihl#/media/Datei:Karte_Zurich_1800.jpg
Stadt Zürich und Umgebung um 1800.Karte: Wikimedia

So bewirkten der liberale Umschwung von 1830 und dann die Gründung des Bundesstaats 1848 den Abbau der traditionellen oligarchischen Herrschaftspraxis in den Städten, wie der Mobilitätsexperte Jonas Bubenhofer schreibt. Zollschranken fielen und die gewerblich-industrielle Produktion nahm zu. Parallel dazu entwickelte sich die Infrastruktur, etwa durch den verbesserten Ausbau der Landstrassen und den Bau der Eisenbahn.

Der Geburtenüberschuss der ländlichen Gebiete führte – wie auch anderswo in Europa – zu einer Zuwanderungswelle in den Städten. Die alte Stadt Zürich und die «Ausgemeinden» – die umliegenden Gemeinden, die 1893 eingemeindet wurden – wuchsen von zusammen 41'585 Einwohnern im Jahr 1850 auf 215'488 Einwohner im Jahr 1910 an. Ihr gemeinsamer Anteil an der Kantonsbevölkerung stieg im selben Zeitraum von knapp 17 auf knapp 43 Prozent.

«In absoluten Zahlen lag Zürich damit hinter den bereits existierenden Millionenstädten anderer europäischer Länder weit zurück. Die Verstädterung vollzog sich im Kanton Zürich aber schneller und massiver als anderswo.»
Christian Koller, Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs und Professor für Geschichte an der Uni Zürich
Blick von Wipkingen mit Eisenbahnviadukt & Nordbahn, Kol. Stich von Johann Baptist Jsenring (unkoloriertes Orig. BAZ Format III), ca. 1860.
Blick von Wipkingen mit Eisenbahnviadukt und Nordbahn, Stich von Johann Baptist Jsenring, um 1860.Bild: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich
Kurs «Boomtown Zürich – das späte 19. Jahrhundert»​
Wer sich für die Stadtentwicklung Zürichs im späten 19. Jahrhundert interessiert, kann sich für den Kurs «Boomtown Zürich – das späte 19. Jahrhundert»
an der Volkshochschule anmelden. Dozent ist Christian Koller, Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs und Professor für Geschichte an der Uni Zürich. Der Kurs umfasst 3 Abende an der Uni ZH und einen Stadtrundgang.
Universität Zürich-Zentrum, Rämistr. 71, 8006 Zürich
Mi., 10.9., 19.30–21.00
Mi., 17.9., 19.30–21.00
Mi., 24.9., 19.30–21.00
Stadtrundgang Zürich:
Sa., 27.9., 11.00–12.30
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Mehr Ausländer ...

Und nicht nur die ländlichen Gebiete der Schweiz speisten die urbane Zuwanderung, sondern auch das Ausland, namentlich Deutschland und Italien. Vor allem aus Norditalien strömten Arbeitsimmigranten über die Alpen, um in der Schweiz im Rahmen der Industrialisierung und grosser Bauprojekte ein Auskommen zu finden. Im Raum Zürich zog vor allen Dingen die rege Bautätigkeit in Aussersihl italienische Bauarbeiter an.

Mitte der 1890er-Jahre lebten in dieser Gemeinde 6500 Personen mit italienischer Staatsangehörigkeit. Sie prägten das stürmisch wachsende Aussersihl stark, was freilich – mitverursacht durch die prekären Lebensverhältnisse der Arbeiter – auch zu Spannungen führte. Diese entluden sich 1896 in mehrtägigen Ausschreitungen gegen Italiener in Aussersihl, dem sogenannten Italiener-Krawall.

«Für viele Menschen aus der Altstadt war Aussersihl wie auf einem anderen Planeten. Man sprach vom ‹Indianerviertel›, das man nach Möglichkeit mied. Allerdings gab es auch in der Altstadt mit dem Niederdorf ein Problemquartier mit schlechten Wohnverhältnissen und hygienischen Problemen.»
Professor Christian Koller

Der Anteil der ausländischen Einwohner an der Bevölkerung der Kernstadt Zürich (die ursprüngliche Stadt, die etwa dem heutigen Kreis 1 entspricht) und der Ausgemeinden stieg durch die Zuwanderung deutlich an. Lag er im Jahr 1850 noch bei 7,8 Prozent, waren es 1910 32,6 Prozent.

Restaurant Helvetia, Kasernenstrasse 15, um 1901.
Restaurant «Helvetia» an der Kasernenstrasse, um 1901. Bild: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich/Moser Adolf

... mehr Katholiken

Die Zuwanderung verschob auch den relativen Anteil der Konfessionen. 1850 dominierten die Reformierten noch mit rund 93 Prozent der Bevölkerung, ihr Anteil sank jedoch bis 1910 auf knapp 65 Prozent. Dafür wuchs der Anteil der Katholiken im selben Zeitraum von 6,6 Prozent auf gut 30 Prozent. Erst in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts wohnten dann erstmals seit der Reformation mehr Katholiken als Reformierte in der Zwinglistadt.

Katholische Kirche St. Josef im Industriequartier, ca. 1905.
Katholische Kirche St. Josef im Industriequartier, ca. 1905.Bild: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich

Noch bevor der Kanton Zürich den Juden 1862 die freie Niederlassung gewährte, kamen aus den Aargauer «Judendörfern» Endingen und Lengnau und später aus Osteuropa erste jüdische Zuzüger in die Stadt. Von etwa 100 Personen im Jahr 1862 wuchs diese Gemeinschaft, die in der «Israelitischen Cultusgemeinde» organisiert war, bis 1910 auf 5338 Personen an. Der Grossteil von ihnen liess sich in Wiedikon und Aussersihl nieder.

«Rotes Zürich»

Die wachsende Schicht der Arbeiter veränderte die politische Landschaft. Ab den 1870er-Jahren erfolgte die allmähliche Ablösung der Sozialdemokraten von der Demokratischen Partei, die in den Vororten vorerst noch dominierte. 1888 wurde die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP) gegründet, die um 1907 erstmals zur stärksten politischen Kraft in der Stadt aufsteigen konnte. Ihre Hochburgen fanden sich in Stadtteilen jenseits der Sihl, Wiedikon und Aussersihl. 1928 entstand dann das «Rote Zürich» mit SP-Mehrheiten in Stadt- und Gemeinderat.

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Zürichs Entwicklung zur Grossstadt

Badenerstrasse, Aquarell von H. Frey, 1827.

quelle: baugeschichtliches archiv der stadt zürich
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Bauboom und Industrialisierung

Zwischen 1833 und 1842 wurden die Schanzen – die im 17. und 18. Jahrhundert errichtete dritte Stadtbefestigung – geschleift. Danach bildete sich in Aussersihl durch die Zuwanderung von Handwerkern, Kleinhändlern und Arbeitern die sogenannte Sihlvorstadt. Die erwähnte demografische Explosion in Aussersihl führte zu einer enormen Bautätigkeit und zum Ausbau der Infrastruktur. Zunächst überwog eine offene Bebauung des Sihlfelds; die für viele Zürcher Quartiere charakteristische Blockrandbebauung setzte erst nach der Eingemeindung 1893 ein. Ab 1847 trennte die Bahnlinie Zürich–Baden («Spanisch-Brötli-Bahn») Aussersihl in zwei Teile, die später durch weitere Bahnlinien wiederum zerschnitten wurden.

Eisenbahnviadukt im Bau, Bildmitte Pfeiler der Drahtseiltransmission des Lettenwerks. 11. September 1892.
Bau des Eisenbahnviadukts, September 1892.Bild: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich/Breitinger Robert

Wie schon die Bezeichnung «Industriequartier» zeigt, setzte auch die Industrialisierung mit aller Macht ein. Diese Entwicklung erfasste ab etwa 1880 das Gebiet zwischen den Bahngleisen und der Limmat – eben das Industriequartier – am stärksten. Aussersihl wurde so mit namhaften Unternehmen wie Escher, Wyss & Cie. neben Oerlikon zum Zentrum der Zürcher Schwerindustrie.

Kesselschmiede, Schiffbauhalle, um 1892.
Kesselschmiede, Schiffbauhalle, um 1892.Bild: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich/Breitinger Robert

Eingemeindung als Lösung

Das enorme Bevölkerungswachstum in den Ausgemeinden brachte diese Körperschaften in finanzielle Nöte. Dies gilt besonders für Aussersihl, wohin die Stadt Zürich zudem seit jeher unangenehme Dinge auslagerte – von der Richtstätte über die Entsorgung von Tierkadavern bis zum Siechenhaus. Weder die Wasserversorgung noch die Kanalisation konnten mit der wachsenden Zahl der Einwohner Schritt halten; es kam daher mehrmals zu Cholera- und Typhusepidemien. Auch der Ausbau von Schulhäusern hinkte dem Bevölkerungswachstum hinterher – 1885 unterrichtete eine Lehrperson in Aussersihl nicht weniger als 84 Schülerinnen und Schüler. Das kantonale Steuersystem, das zwar Vermögens- und Kopfsteuer, aber keine Einkommenssteuer kannte, machte die Lage für die Ausgemeinden mit ihren eher finanzschwachen Bewohnern zusehends unhaltbar.

Die Eingemeindung der Zürcher Vororte 1894 und 1934.
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=883151
Mit der ersten Eingemeindung der Zürcher Vororte von 1893 wuchs die Stadt Zürich von rund 1,8 km² auf gut 48 km²; die Einwohnerzahl stieg auf rund 121'000.Karte: Wikimedia/Marco Zanoli

Da es noch keinen kantonalen Finanzausgleich gab, bestand die Lösung in der Eingemeindung der Ausgemeinden in die Stadt Zürich; ein Vorgang, der in zwei Etappen – 1893 und 1934 – erfolgte. Bereits 1885 forderte Aussersihl, das von den Problemen am stärksten betroffen war, die Vereinigung mit der Stadt, weil die Situation allmählich untragbar wurde. 1891 fand die kantonale Vorlage in Aussersihl eine Zustimmung von 99 Prozent, und auch die anderen Ausgemeinden – mit der Ausnahme der wohlhabenden Gemeinden Enge und Wollishofen – stimmten mit deutlichen Mehrheiten zu. Am 1. Januar 1893 trat dann die «Totalzentralisation» von Zürich und 11 Vororten (Enge inklusive Leimbach, Wollishofen, Wiedikon, Aussersihl, Wipkingen, Unterstrass, Oberstrass, Fluntern, Hottingen, Hirslanden und Riesbach) in Kraft.

«Zürich wurde damit von der Kleinstadt an der Limmat zur ersten Schweizer Grossstadt mit Ausrichtung auf den See.»
Professor Christian Koller

Damit erhielt die Stadt Zürich ihre heutige politische Struktur mit Stadt-, Wahl- und Schulkreisen. Die Einwohnerzahl stieg um knapp 90'000 auf 121'000. Die Fläche der Stadt wuchs von rund 1,8 Quadratkilometern auf gut 48 Quadratkilometer. Gut 40 Jahre später verdoppelte sich die Fläche der Stadt mit der Eingemeindung von 1934 beinahe; die Einwohnerzahl stieg von 264'043 auf 312'141 Personen. Zürich war nun mit grossem Abstand die bevölkerungsreichste Schweizer Stadt.

Der Zürcher Hauptbahnhof im Wandel der Zeit

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Der Zürcher Hauptbahnhof im Wandel der Zeit
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Historische Bilder der Stadt Zürich
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Historische Bilder der Stadt Zürich
Zürich um 1910 von oben: Blick aufs Central, die alte Bahnhofbrücke und den Hauptbahnhof.
quelle: eduard spelterini
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Das Verkehrschaos in Zürich 1932
Video: watson
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30 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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FP
23.08.2025 18:01registriert Mai 2022
Herzlichen Dank für diesen geschichts Artikel über Zürich, war sehr eindrücklich und intressant. 👍
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Zum Kommentar
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Highland Sack
23.08.2025 19:10registriert Oktober 2022
Kleiner Fun Fact am Rande: Die Bezeichnung "Chreis Cheib" rührt daher, dass zu den ungeliebten Infrastrukturen, die nach Aussersihl ausgelagert wurden, eben auch die Entsorgungsstätte für Tierkadaver und das Schlachthaus gehörten (Cheib bedeutet ursprünglich Kadaver).

Etwas, das ich mich schon mehrmals gefragt habe im Kontext dieser ganzen Eingemeindungs-Geschichte: Wurden die Gemeinden Enge und Wollishofen einfach gegen ihren Willen zur Fusion gezwungen? Weiss da jemand was dazu?
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Hüendli
23.08.2025 18:30registriert Januar 2014
Auch als ausserkantonales Landei spannend zu lesen; Danke Hubini!
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