«Mein Tipp an Eltern: Schaut selber Pornos»
Wenn ich etwas zwischen den Zähnen hätte – würden Sie mir das sagen?
Dania Schiftan: (lacht) Das ist ein guter Einstieg. Ja, ich würde etwas sagen. Wie neulich, als eine Frau im Bus stand, die sich auf den Rock trat und ihr nackter Po deshalb herausschaute. Zehn Leute waren näher dran als ich, aber niemand sagte etwas. Ich ging hin und meinte: «Entschuldigung, Ihr Füdli ist blutt.»
Warum trauen sich die meisten von uns nicht, solche Dinge anzusprechen?
Der Grund ist Scham. Denn wir wissen, dass sich durch das Gesagte eine andere Person schämen könnte. In diese Lage wollen wir niemanden versetzen. Dabei vergessen wir, dass die Scham noch grösser sein kann, wenn niemand etwas sagt.
Ihnen fällt es also leicht, Dinge anzusprechen?
Gar nicht. Aber ich bin so aufgewachsen: Zuhause haben wir gelernt, alles zu besprechen – selbst Unangenehmes. Das schätze ich bis heute und mir war lange nicht bewusst, wie aussergewöhnlich das ist. Gerade das offene Sprechen über Sexualität hat meine Zukunft geprägt.
Seit wann fasziniert Sie Sexualität im professionellen Sinn?
Das war parallel zu meiner ersten langen Beziehung. Mit 17 kam ich mit meinem Partner zusammen. Wir waren füreinander die Ersten, hatten viele Fragen und Unsicherheiten. Gleichaltrige konnten wenig helfen. Dann begann ich mit 21 das Psychologiestudium und merkte: Sexualität ist da gar kein Thema. Auch sonst erhielt ich nirgends Antworten, etwa beim Hausarzt oder der Gynäkologin. Als ich Fragen stellte, wie andere Frauen Orgasmen erlebten, was vaginaler Orgasmus sei, wie man die Lust in langen Beziehungen aufrecht erhält, wie bleibt es spannend, wie verschiebe ich Grenzen, da hiess es oft: «Weiss ich auch nicht so genau.» Also rief ich meine Mutter an und dachte zugleich: eine Zwanzigjährige sollte nicht mit ihrer Mutter darüber reden müssen. Da reifte der Gedanke: Dann mache ich’s halt. Mir fiel Fragenstellen und Reden immer leicht.
Sind wir heute weiter als damals mit Aufklärung, zum Beispiel in Schulen?
Ja und nein. In vielen Zürcher Schulen kommen in der fünften oder sechsten Klasse externe Sexualpädagogen und -pädagoginnen, die solche Themen ansprechen. Gleichzeitig aber werden Kinder heute aufgrund von Smartphones und Social Media früh mit Pornografie überflutet. Wir befinden uns also in einer Zwischenphase: Es gibt Angebote, aber auch grosse Überforderung.
Wie sieht Ihre Idealvorstellung aus?
Ganz einfach: Ab der Kita oder Spielgruppe sollte Körper- und Gefühlsbildung normal sein. Und nein, damit meine ich nicht, im Kindergarten die «Stellung XY» kennenzulernen. Es geht um Fragen wie: Was ist mein Körper? Was fühlt sich gut an, was nicht? Wie sage ich Oma, dass ich keinen Kuss auf den Mund will? Wie fordere ich Privatsphäre ein? Das ist sexuelle Entwicklung und Kinderschutz. Wer «Ja» sagen kann, lernt auch «Nein» zu sagen. Und zu reagieren, wenn Grenzen überschritten werden.
Sie waren als Kind neugierig. Sie haben mal im Affenhaus laut gefragt, warum der Affe einen so grossen roten Penis hat …
Ja – ich habe es durchs ganze Affenhaus gerufen. Mein Vater – ein Tierarzt – erklärte uns früh die Fortpflanzung. Er musste damals aber drei Mal leer schlucken.
Wie machen Sie es mit Ihren Kindern?
Meine Kinder sind noch klein. Aber als Mutter merke ich schon, dass es nicht immer easy ist. Manchmal schluckt man zweimal und hinterfragt sich selbst. Trotzdem bleibe ich dran mit Kommunizieren und Erklären. Als mein Sohn ein Handy bekam, sprachen wir etwa über Pornos. Das ist denn auch mein Tipp an Eltern: Schaut selber Pornos, auch wenn ihr das nicht mögt. Denn ihr müsst wissen, was eure Kinder sehen, um mit ihnen Fragen zu behandeln wie: «Was machen diese Bilder mit dir? Wie verstehst du das?»
Kommen wir zum Erwachsenenleben. Sie haben in «Comeback der Lust» ein Modell für Sexualität beschrieben: Worum geht es dabei?
In aller Kürze geht es darum, dass Sexualität ein ultra-ökonomisches Konzept ist. Sex mit jemandem ergibt auf Dauer nur Sinn, wenn ich viel daraus ziehe – emotional, seelisch, körperlich. Wenn ich mehr investiere, als ich profitiere, lasse ich es. Niemand macht langfristig Verlustgeschäfte. Bei Menschen, die keinen Sex mehr miteinander haben, profitiert mindestens einer, häufig beide, zu wenig. Dann sind Schlaf, Netflix, Essen attraktiver. Viele würden nun entgegnen, dass es beim Sex doch um Gefühle gehe. Ich antworte, klar, aber auch Gefühle sind Aufwand.
Wie wirkt sich das in heterosexuellen Langzeitbeziehungen aus?
Klischeehaft gesprochen: Viele Frauen brauchen Emotionen als Eintrittskarte. In langen Beziehungen sind grosse Gefühlswellen seltener; wenn dann der genitale Profit gering ist – zum Beispiel die Klitoris nicht so stimuliert wird, wie sie es braucht – dann ist der Aufwand hoch. Der «Deal» lohnt sich für sie nicht. Männer haben – wieder klischeehaft gesprochen – oft schneller genitalen Profit, also lohnt es sich aus Sicht des Körpers häufiger. So verhärten Fronten: Er fühlt sich mit Sex belohnt, sie sieht einen hohen Aufwand, aber wenig Ertrag.
Was sind Strategien, um da rauszukommen?
Drei Dinge sollte man beachten. Zuerst geht es darum, genau hinzuschauen: Wovon profitiert sie – und wovon nicht? Welche Erregungswege funktionieren, wie eng oder breit ist ihr Repertoire? Dann kann man daran arbeiten, dass mehrere Wege möglich werden – mal entspannt, mal intensiver, mit viel oder wenig Gefühl. Ziel ist, dass Sexualität zu einer Ressource wird, die guttut, egal in welcher Stimmung man ist. Aber das heisst nicht, einfach immer Sex zu haben, sondern langsam kennenzulernen, was funktioniert – im eigenen Tempo, im Wohlfühlbereich. Der zweite Punkt: Der Partner hat natürlich auch seine Themen. Ich habe noch nie ein Paar erlebt, bei dem nur eine Seite «das Problem» hat. Wenn sie sich weiterentwickelt, passiert bei ihm oft gleichzeitig etwas anderes. Man muss also beide Prozesse anschauen.
Und drittens?
Viele Paare einigen sich mit der Zeit auf den kleinsten gemeinsamen Nenner – ein sicheres, immer gleiches Programm. Da hilft Mut zu Neuem: eine andere Tageszeit, einmal nur Vorspiel, ein kleiner Perspektivenwechsel. «Neu» bedeutet aber nicht automatisch «neue Partnerin oder neuer Partner».
Viele lösen das Problem jedoch genau mit serieller Monogamie, weil das «Neue» zündet…
Das kann man machen, da bin ich ganz wertungsfrei. Wer Erregung nur über Aufregung und etwas Neues bekommt, «braucht» das Neue offenbar. Man kann aber lernen, auch ohne Aufregung tief zu geniessen.
Wie führt man langfristig denn glückliche Beziehungen?
Beziehungskompetenzen sind nicht dasselbe wie Sexualkompetenzen, aber sie befruchten sich. In der rosaroten Idealwelt wünschen wir uns beides – über Jahrzehnte. Das ist möglich, aber nicht einfach. Viele müssen auf der Beziehungsseite (Konflikt-, Dialog-, Bindungsfähigkeit) und/oder auf der sexuellen Seite lernen. Ob man investieren will, entscheidet jede und jeder selbst. Easy ist es nicht – aber der Prozess kann viel auslösen.
Studien sagen, die Generation Z habe weniger Lust auf One-Night-Stands und insgesamt weniger Sex. Was ist da dran?
Damit bin ich vorsichtig. Ich bin überzeugt, dass sich Menschen verbinden wollen, Digitalisierung hin oder her. Wir sind Herdentiere, haben Körper, die berührt werden wollen. Sexualität ist ein natürlicher Reflex. Jede Generation findet dafür eigene Ausdrucksformen. «Weniger Sex» kann auch heissen: mehr Selbstbestimmung. Vielleicht sagt heute jemand: «Du bist meine romantische Beziehung, aber ohne sexuelle Anziehung, Sex suche ich anders.» Mit der allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Sex, etwa durch Pornos auf dem Handy, ist das Setting anders als bei der Generation der «Sexheftli»-Zeiten. Die alleinige Zahl an Sexakten sagt wenig aus.
Hören Sie das ganze Interview mit Dania Schiftan im Podcast «Widmerei». (bzbasel.ch)
