Der Markt an eiweissreichen Produkten wächst und wächst. Heute sind nicht mehr nur Pulver oder Riegel erhältlich – mittlerweile gibt es sogar Chips, Toastbrot und selbst Bier. Die Regale Schweizer Supermärkte werden regelrecht überflutet von schwarzen Verpackungen, auf denen der Proteingehalt in grossen Lettern prangt.
Der Trend ist dabei nicht nur hierzulande erkennbar. Das «Wall Street Journal» berichtete vor wenigen Wochen, dass die Lebensmittelindustrie allein in den USA 97 neue Produkte auf den Markt gebracht hat, die das Wort «Protein» im Namen tragen. Auch die Promis mischen kräftig mit: Khloé Kardashian etwa hat ihre eigene Marke für proteinreiches Popcorn lanciert – sie trägt den Namen Khloud.
Auch wenn tatsächlich einige Schweizerinnen und Schweizer unter einem Proteinmangel leiden, sorgt dieser Trend weltweit bei vielen Fachleuten für Stirnrunzeln. So schätzt die in Lausanne ansässige Ernährungsberaterin Ioana Chelemen die Lage ein.
Ein kurzer Scroll auf Instagram oder ein Spaziergang durch die Supermarktregale genügt, um zu sehen: Proteine sind angesagt. Wie beurteilen Sie diesen Trend in der Schweiz?
Ioana Chelemen: Tatsächlich sind Proteine immer beliebter geworden. Seit der Covid-19-Pandemie zeigt sich, dass die Schweizer Bevölkerung generell mehr Wert auf ihre Gesundheit legt – sei es durch mehr Sport oder eine bewusstere Ernährung. Das ist an sich eine gute Entwicklung. Das Problem ist jedoch, dass wir es inzwischen mit einem regelrechten kommerziellen Durcheinander zu tun haben, das den Konsumentinnen und Konsumenten wenig Orientierung bietet. Die Supermärkte nutzen das natürlich aus.
Bevor wir dieses «Durcheinander» entwirren: Es wirkt fast so, als hätte plötzlich die ganze Schweiz einen allgemeinen Proteinmangel. Stimmt das denn?
Ja, das stimmt – aber nicht flächendeckend. Nationale Zahlen belegen es, und ich sehe es täglich in meiner Praxis: Etwa ein Viertel der Bevölkerung nimmt nicht genügend Proteine zu sich. Besonders betroffen sind dabei Menschen über 65 Jahre. Aber sie sind nicht die einzigen.
Wer ist sonst betroffen?
Ich sehe zum Beispiel viele Unternehmer und CEOs, die aufgrund von Stress zu wenig oder schlecht essen. Sie greifen unterwegs zu irgendetwas Schnellem – und sind ständig am Limit. Bei diesem Lebensstil fehlt es dann unter anderem auch an Proteinen.
Decken diese Proteinprodukte also ein reales Bedürfnis ab?
Nicht wirklich. Die meisten dieser Produkte sind in Wahrheit stark verarbeitet. Für ein paar zusätzliche Gramm Eiweiss nimmt der Konsument oft eine übermässige Menge an Zusatzstoffen oder Zucker zu sich, die dort eigentlich nichts verloren haben. Wenn jemand ein verarbeitetes Produkt kauft, auf dem der Proteingehalt gross angepriesen wird, hat er schnell das Gefühl, seinem Körper etwas Gutes zu tun – und das ganz ohne grossen Aufwand.
Und das ist nicht der Fall?
Natürlich sind nicht alle Produkte gleich – aber die meisten bieten aus ernährungsphysiologischer Sicht tatsächlich keinen grossen Mehrwert. Der eigentliche Nutzen liegt vor allem bei den Supermarktketten, die bewusst auf den Trend aufspringen und die Gelegenheit nutzen, ihre proteinangereicherten Produkte teurer zu verkaufen.
Protein bedeutet Muskelaufbau – zumindest wenn man den Fitness-Influencern in den sozialen Netzwerken glaubt. Das Marketing ist aggressiv, Schwarz dominiert häufig die Verpackungen. Ein Versuch, mehr Glaubwürdigkeit zu vermitteln?
Sagen wir es so: Ganz allgemein wird das Wort Protein in erster Linie mit Gesundheit assoziiert – dadurch spricht das Marketing wahrscheinlich einen sehr breiten Teil der Bevölkerung an. Während vor allem junge Menschen besonders empfänglich für diese aggressive Marketingstrategie sind, spricht sie auch gestresste Stadtbewohner an. Denn die Supermärkte setzen vor allem auf proteinreiche Produkte, die keinerlei Zubereitung erfordern – ideal für den schnellen Konsum unterwegs.
Bietet eine ausgewogene Ernährung nicht ohnehin die nötige Menge an Proteinen für einen durchschnittlichen Menschen?
Ja, ein gesunder Mensch, der sich ausgewogen und vielfältig ernährt, kann seinen Proteinbedarf in der Regel ganz natürlich decken. Schwieriger wird es allerdings bei bestimmten Ernährungsformen – etwa bei einer rein veganen Ernährung.
Auch heute noch? Dabei übertreffen sich Hobbyköche in den sozialen Netzwerken doch regelrecht mit kreativen, fleischlosen Gerichten.
Natürlich gibt es zahlreiche pflanzliche Proteinquellen. Dennoch ist es deutlich schwieriger, die empfohlene Tagesmenge nur mit Linsen oder Tofu zu erreichen – im Vergleich zu Poulet zum Beispiel, das rund 30 Gramm Eiweiss pro 100 Gramm liefert.
Trotzdem hat man den Eindruck, dass gerade jene Konsumentinnen und Konsumenten zu den proteinreichen Supermarktprodukten greifen, die ihren Bedarf eigentlich ganz natürlich decken könnten.
Das stimmt. Vor allem durch die sozialen Netzwerke. Menschen, die abnehmen oder Muskelmasse aufbauen möchten, folgen oft Content Creators, die Proteine regelrecht verherrlichen – und dabei eine ausgewogene Ernährung in den Hintergrund drängen.
Dabei sind diese Influencer oft regelrechte Muskelpakete – Menschen, für die Fitness längst zum Beruf geworden ist...
Hinzu kommt die ständige Selbstüberbietung in ihren Inhalten – jeder Beitrag muss auffallen, inmitten einer immer härter umkämpften Konkurrenz. Und nicht zu vergessen: die zahlreichen Kooperationen mit Herstellern von Proteinpulvern oder -riegeln, bei denen oft unklar ist, was eigentlich genau drinsteckt. Das Publikum solcher Accounts besteht häufig aus jungen Menschen, die gerade erst mit dem Krafttraining beginnen – und sicher keine 200 Gramm Protein pro Tag benötigen.
Es gibt allerdings zunehmend Coaches und Influencer, welche die alten, bewährten Gewohnheiten unserer Grosseltern wieder ins Rampenlicht rücken – mit einem Comeback der sogenannten Whole Foods: Fleisch, Gemüse, Obst, Eier, dazu Wasser trinken und ausreichend schlafen.
Ja, das stimmt – aber sie sind klar in der Minderheit. Auch wenn es spannend ist zu sehen, dass Gesundheit heute viel «trendiger» ist als noch vor zehn Jahren, gibt es nach wie vor zu viele Auswüchse und fragwürdige Entwicklungen in diesem Bereich. Man sieht zwar, dass neue Content Creator versuchen, mit fundierten Beiträgen etwas Klarheit zu schaffen – etwa indem sie die Absurditäten kommentieren, denen wir täglich auf den sozialen Netzwerken begegnen. Aber auch hier gilt: Sie bleiben die Ausnahme, nicht die Regel.
Wie viel Protein sollten wir eigentlich täglich zu uns nehmen?
Man geht davon aus, dass ein Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht und Tag das Minimum ist. Diese Menge kann erhöht werden, wenn man körperlich aktiv oder sehr aktiv ist.
Sie sind keine grosse Befürworterin der sogenannten hochproteinhaltigen Produkte. Was würden Sie Migros oder Coop sagen, welche in diesem Markt aktiv sind?
Ich würde mir wünschen, dass sie genauso viel Marketingkraft in natürliche Produkte stecken, die von sich aus reich an Proteinen sind. Wäre doch grossartig, wenn Eier, Skyr oder Linsen mit denselben auffälligen Verpackungen beworben würden wie all diese künstlich angereicherten Produkte, oder?
Aber das beste ist High Protein Quark, der 1-2g mehr Protein hat als der viel günstigere normale 😆 Solange die Menschen so dumm sind, werden sie halt durch solch unsinnige Produkte ausgenommen.