Da ist es wieder, das Bild des hinterwäldlerischen Kantons. Schwyz, wo man sich nicht gegen Covid impfen lassen will. Wo bärtige Männer mit Stumpen im Mund und den Händen im Hosensack wettern, die Zertifikatspflicht sei ein Unding. Und wo Fasnacht gefeiert wird, als gäbe es kein Corona.
Kurz vor der zweiten Abstimmung über das Covid-Gesetz zieht es wieder auffallend viele Journalisten nach Unteriberg. Von der «Rundschau», dem «Echo der Zeit» oder der NZZ. In sozialen Medien kursiert ein schon etwas älterer Videoclip, in dem ein Älpler und SVP-Fan dem SRF-«Rundschau»-Mann aus Deutschland erklärt, weshalb er ihn für die Arbeit auf einer Alp bei Wind und Wetter nicht gebrauchen könne.
Für das Interesse an der 2400-Seelen-Gemeinde gibt es zwei Gründe. Erstens hat Unteriberg, Heimat von Skistar Wendy Holdener, im Sommer das Covid-19-Gesetz mit einem Landesrekord von fast 88 Prozent Nein-Stimmen verworfen. Zweitens ist Unteriberg das konservativste Dorf der Schweiz, wie Politgeograf Michael Hermann schon vor bald 20 Jahren festgestellt hat. Jüngst verwarfen hier 70 Prozent die «Ehe für alle».
Hier auf 1000 Metern über Meer, eingeklemmt zwischen in die Höhe ragenden Felsen, werden nicht Ungeimpfte als unsolidarische Zeitgenossen gerügt. Vielmehr haben Geimpfte einen Exotenstatus. Am Stöckmärcht, einem lokalen Feiertag, sprach ein Teenager FDP-Kantonsrat Sepp Marty an und sagte: «Gäll, du bisch dr Gimpft.»
Die Impfquote ist im Kanton Schwyz mit 56 Prozent generell tief. Mit – freundlich ausgedrückt – eigenwilligen Reden gegen die Covid-Massnahmen hat sich SVP-Kantonsrat David Beeler ins nationale Scheinwerferlicht katapultiert.
Im Februar, als Grossveranstaltungen verboten waren, zelebrierte man in Einsiedeln die Fasnacht mit dem sogenannten «Sühudi»-Umzug. Allerdings schnellten die Fallzahlen nach dem zumindest am Montagmorgen zivilisierten Normbruch nicht in die Höhe, wie manche Medien verwundert feststellen mussten.
Im Oktober vergangenen Jahres filmte das Fernsehen Schwyzer beim Jassen. Sie fanden, man solle wegen Corona nicht so ein Drama machen. (Man hätte zur Illustration der Sorglosigkeit im Umgang mit Corona damals auch urbane Clubgänger vorführen können.)
Als die Schwyzer die gleichgeschlechtliche Heirat an der Urne absegneten, titelte die NZZ: «Selbst Schwyz sagt Ja zur ‹Ehe für alle›». Kurzum: Aus der Aussenperspektive kommt man schnell zum Schluss: Die spinnen, die Schwyzer, dieses Volk von Eigensinnigen, das sich um Pandemiemassnahmen foutiert und sich aus Prinzip gegen die Obrigkeit auflehnt.
Ein weiteres gern bemühtes Klischee erzählt davon, dass der steuergünstige Kanton Schwyz aus «Bauern» und «Bonzen» besteht, wie es der «Schweizer Monat» formuliert, wobei man den Boom zufälligen Umständen wie dem Anschluss der Zürichseegemeinden an die Autobahn A3 zu verdanken habe. Und dass in Unteriberg nicht gefühlte 90 Prozent der Bevölkerung Bart tragen und jodeln, kann man nach Konsultation des «Rundschau»-Berichts bloss erahnen.
Natürlich bilden die Stereotype einen Teil der Realität ab. Aber die Klischees sind unvollständig. Der Kanton Schwyz besteht nicht nur aus Finanzspezialisten in den Steueroasen am Zürichsee und Bauern in den eingekesselten Tälern, sondern er verfügt über eine diversifizierte Wirtschaftsstruktur mit vielen kleineren und mittleren Betrieben, aber auch über Firmen von Weltrang wie die Messerfabrik Victorinox in Ibach oder den Logistikkonzern Kühne + Nagel in Schindellegi.
«Wir haben kein Klumpenrisiko», sagt Finanzdirektor Kaspar Michel. Die Coronakrise hat der Kanton wirtschaftlich hervorragend gemeistert. In der Staatskasse zeichnet sich ein Überschuss von rund 180 Millionen Franken ab. Und im vergangenen Jahr verzeichnet der Kanton pro Kopf am zweitmeisten Firmengründungen.
Die Zahl der Beschäftigten steigt im schweizweiten Vergleich generell überdurchschnittlich, das BIP auch, und die Bevölkerung wuchs in den letzten 50 Jahren um 74 Prozent auf 160'000 Einwohner – nur Zug und Freiburg entwickelten sich noch dynamischer.
Wäre der Kanton bloss ein Sammelbecken verstockter Abschotter und neureicher Globalisierungsgewinner, würden sich kaum so viele Neuzugezogene niederlassen. Viele Naherholungsgebiete und eine lebendige Kulturszene bieten eine hohe Lebensqualität. Offensichtlich geht es den Schwyzern und Schwyzerinnen bestens.
Gemäss der aktuellen Gesundheitsbefragung sind sie überdurchschnittlich aktiv, fühlen sich gesünder als der Rest der Schweiz und leiden weniger an Depressionen. Die Arbeitslosen- und Sozialhilfequote ist tief, die Eigenverantwortung hoch. Vom kleinen Kanton im Herzen der Schweiz, der sich vom Armenhaus zum Steuerparadies gemausert hat, profitiert das ganze Land.
Er steuert 200 Millionen Franken in den nationalen Finanzausgleich bei, pro Kopf am zweitmeisten Geld nach dem Kanton Zug. Das alles macht den Kanton Schwyz nicht zu einem «Nebenzimmer der Hölle». So kommentierte Kaspar Michel ironisch den erwähnten NZZ-Titel zum Artikel über die «Ehe für alle».
Man könnte auch meinen, wir seien ein Nebenzimmer der Hölle! 😆 pic.twitter.com/81LFI9zwwH
— Kaspar Michel (@kaspar_michel) September 27, 2021
Aber ja, es stimmt. Der Aufschwung in den letzten Jahrzehnten hat auch Schattenseiten. Das stürmische Wachstum befeuert die Zersiedelung und lässt die Wohn- und Immobilienpreise in die Höhe schnellen. Im Kanton gibt es grosse Einkommens- und Vermögensunterschiede. Viele Zugezogene seien sodann vor allem an den niedrigen Steuern und der schönen Wohnlage interessiert, zeigten aber kaum Bereitschaft, am Dorfleben teilzunehmen, schreibt Tobias Straumann in der «Geschichte des Kantons Schwyz».
Der Wirtschaftshistoriker beurteilt die Steuerpolitik der letzten Jahrzehnte aber aus verschiedenen Gründen positiv. So seien nicht nur Privilegierte, sondern auch Mittelstandsfamilien entlastet worden. Der Boom habe den Wohlstand angehoben und attraktive Arbeitsplätze geschaffen. Und dank des gestiegenen Steuerertrags müsse sich der Staat nicht mehr auf das Allernötigste beschränken.
Gezielte Steuersenkungen beschloss der Kanton Schwyz erst in den 1980er-Jahren, nachdem der Boom in Ausserschwyz schon Fahrt aufgenommen hatte. Schon vorher zählte Schwyz zu den steuergünstigen Kantonen, weil die Schwyzer dem Staat misstrauten und private Institutionen viele öffentliche Aufgaben übernahmen. Eine Bedingung für den Aufschwung war ausgerechnet der wirtschaftlichen Rückständigkeit zu verdanken: Reserven an günstigem Bauland.
Das Abstimmungsverhalten zementiert derweil das Bild eines Sonderlings. Kein anderer Kanton lehnte im 20. Jahrhundert mehr eidgenössische Vorlagen ab. Schon seit dem Spätmittelalter galt Schwyz als schwieriger Partner, wie Kaspar Michel, der auch Historiker ist, festhält. Oft habe sich Schwyz in der Tagsatzung quergelegt. In der Helvetik bildete Schwyz zusammen mit Nidwalden die letzte Bastion des Widerstands gegen die Franzosen.
Nach der traumatischen Niederlage im Sonderbundskrieg fand sich Schwyz in einem Staatsgebilde wieder, das es ablehnte. Während des Ersten Weltkriegs hatten Regierung und Medien das Gefühl, die Schwyzer würden überproportional stark für den Militärdienst aufgeboten, wie Historiker Erwin Horat, ehemaliger Leiter des Staatsarchivs, sagt.
Die Soldaten erhielten bloss Sold, was zahlreiche Familien in die Armut trieb und den Anti-Bern-Reflex verstärkte. Im Buch «Der schwarze Tanner» hat der Schwyzer Schriftsteller Meinrad Inglin die Aufmüpfigkeit gegen die Obrigkeit literarisch verarbeitet: Ein Bergbauer weigert sich, sein Land für die Anbauschlacht herzugeben. In einem Punkt, heisst es zusammenfassend in der Kantonsgeschichte, seien sich die Schwyzer einig: «Man will sich nicht dreinreden lassen.»
Das gilt offensichtlich auch dann, wenn auswärtige Coronapolitikgegner Unteriberger vereinnahmen wollen. Dort seien selbst massnahmenkritische Helvetia-Trychler von vielen als lästig empfunden worden, erzählt Sepp Marty. Der Kantonsrat hat Politikwissenschaft studiert und arbeitet bei Economiesuisse in der Abteilung Kommunikation und Kampagne. Im persönlichen Kontakt seien die Unteriberger gutmütig, sagt Marty. Dass er geimpft sei, werde respektiert. Bei politischen Entscheiden setze sich aber die harte Linie durch.
In Unteriberg, nur eine Autostunde von der Stadt Zürich entfernt, leben Menschen mit anderen Überzeugungen als jene, die im urbanen links-grünen Milieu verbreitet sind. Werden die Unteriberger als Hinterwäldler dargestellt, reagieren sie nicht mit Anpassung. «Vielmehr zelebrieren sie ihre Haltung mit einer grosszügigen Prise Humor erst recht», sagt Marty.
* CH-Media-Redaktor Kari Kälin stammt aus Einsiedeln im Kanton Schwyz und wohnt heute im Kanton Luzern.
Reinrufen: "Kälin, din Subaru brännt!"