Woher kommt denn eigentlich die Bezeichnung «Hornussen»? Der Begriff geht auf den Wortstamm «Hornen» oder «Hurnen» zurück. Also auf das Geräusch, das der Nouss macht, wenn er durch die Luft fliegt: Er brummt oder hornt. Wir sehen also: Hier geht es um ein gut geerdetes, traditionsreiches Spiel. Anders als das ebenso vaterländische Schwingen ist Hornussen bei den Hipstern und Modemäusen in den urbanen Zentren beinahe unbekannt. Weil es weitgehend unter dem Radar der medialen Wahrnehmung durchfliegt. Dabei ist das über zwei Wochenenden im bernischen Höchstetten ausgetragene Eidgenössische Hornusserfest der grösste Sportanlass im Land.
Gut 5000 Aktive treten an, um die beste Gesellschaft – im Hornussen heissen die Mannschaften Gesellschaften – und den besten Einzelschläger – den Schlägerkönig – zu ermitteln. Obwohl theoretisch für Frauen offen, ist Hornussen weitgehend eine männliche Angelegenheit. Immerhin gibt es schon 160 Frauen, die diese Saison mindestens ein Meisterschaftsspiel bestritten haben. Die Meisterschaft wird jedes Jahr in der NLA, NLB, plus weiteren fünf Ligen in insgesamt über 1000 Partien ausgetragen. Das Eidgenössische Fest alle drei Jahre als Hochamt des Hornussens zelebriert. Als Olympische Spiele der Vaterländischen. Dem jedes Jahr ermittelten Schweizer Meister wird viel Respekt erwiesen. Aber wahren, ewigen Ruhm ist dem Triumphator des Eidgenössischen vorbehalten.
Olympische Spiele? Der Vergleich ist durchaus berechtigt. Nicht nur, weil das Eidgenössische mit rund 5000 Spielern und ein paar Spielerinnen gut halb so viele aktive Teilnehmer mobilisiert wie die Olympischen Sommerspiele. Kein anderer Sport pflegt und hegt den wahren olympischen Geist so sorgfältig und versteht es zugleich so geschickt, dabei hochmodern zu sein.
Dass die Werbeindustrie bei fehlender Medienpräsenz praktisch kein Geld investiert, erleichtert natürlich die Pflege der Kameradschaft und des reinen olympischen Sportgeistes (Mitmachen ist wichtiger als Siegen) erheblich. Baron Pierre de Coubertin, der Erfinder der modernen Olympischen Spiele, der zeitlebens ein Romantiker war, würde Hornusser, wenn er auf die Erde zurückkehren dürfte.
Es mag zwar sein, dass Hornussen nur wenig mediale Beachtung findet. Aber Hornussen ist der erste Sport der Neuzeit, der Eingang in die Weltliteratur gefunden hat und dort seriös und eingehend, mit allen Regeln und Eigenheiten in höchster Erzählkunst geschildert wird.
Jeremias Gotthelf hat in seinem sozialkritischen Roman «Ueli der Knecht» diesem Spiel ein ganzes Kapitel gewidmet («Ein Hornussersonntag») und es auf den Punkt gebracht: «Es ist wohl nicht bald ein Spiel, welches Kraft und Gelenkigkeit, Hand, Aug und Fuss so sehr in Anspruch nimmt als das Hornussen.» Das Kerngebiet dieses Spiels ist das «Gotthelfland»: das Emmental, das Mittelland und der bernische Oberaargau.
Hornussen dürfte der wohl sauberste und ehrlichste Sport des 21. Jahrhunderts sein. In keinem anderen Sport wird so sehr mit gesundem Menschenverstand modernstes Know-how übernommen und direkt umgesetzt. Mit dem Projekt «Hornusserweg» wird die laufende Modernisierung unter Einbezug aller Beteiligten vorangetrieben. Stetig werden Spiel und Ausrüstung weiterentwickelt und die Strukturen den Erfordernissen der Zeit angepasst.
Der rund drei Meter lange Stecken, mit dem der Nouss mit über 300 Stundenkilometern mehr als 300 Meter weit ins Spielfeld (Ries) oder darüber hinaus geschlagen wird, ist zu Gotthelfs Zeiten aus dem Holz der Esche hergestellt worden. Seither ist das Material immer weiter verbessert worden. Es gab Irrwege wie Stecken aus Meerrohr, das aus China importiert werden musste. Durchgesetzt haben sich Fiberglas, Aluminium oder Carbonfasern.
Weil der Nouss bei besserem Material und höherer Schlagkraft immer weiter bis übers Spielfeld hinausgeflogen ist (läng hingeruus) und so das zentrale Element des Abwehrens (Abtun) zu verschwinden drohte, ist der Nouss nach Tests im Windkanal mit Rillen und in der Form aerodynamisch so verändert worden, dass er weniger weit fliegt.
In alten Zeiten war es üblich, dass ein Spiel zwischen zwei Dörfern abgemacht wurde (in Gotthelfs Erzählung zwischen Erdöpfelkofen und Brönzwyl), der Verlierer dem Sieger Speis und Trank bezahlte und das Ganze nicht selten in eine zünftige Wirtshausschlägerei mündete. 1902 wird im Schützenhaus zu Burgdorf der Eidgenössische Hornusserverband gegründet, und heute ist der Spielbetrieb hochmodern nach den Bräuchen des digitalen Zeitalters in fünf Ligen als Meisterschaft, in Kranzfesten und einem alle drei Jahre ausgespielten Eidgenössischen nach dem Vorbild der Schwinger organisiert. Resultate und Spielverlauf sind in Echtzeit auf dem Hosentelefon abrufbar, und bald sollen noch mehr Spiele der Meisterschaft und der Kranzfeste gestreamt werden.
Einen landesweiten Popularitätsschub wie im Schwingen gibt es durch diese Modernisierung nicht. Hornussen ist wegen der Länge eines Spiels (es kann sich über mehr als zwei Stunden hinziehen) und der Schwierigkeit, mit der Kamera den weiten Flug des Nouss einzufangen, kein TV-Sport wie Schwingen. Bruno Ryser, in einem 50-Prozent-Pensum Geschäftsführer des Verbandes, sagt, dass der Verband keine TV-Rechte besitze und verkaufe. «Es ist den Organisatoren eines Festes überlassen, welche Abmachungen sie etwa mit dem Schweizer Fernsehen machen.» Es gibt also keine TV-Einnahmen.
Ohne TV-Präsenz fehlt der Sauerstoff fürs Werbegeschäft. «Wir haben kein Werbereglement wie die Schwinger, weil wir keines brauchen», sagt Bruno Ryser. «Jeder kann Werbung machen, wie er will.» Es könnte also einer beispielsweise komplett in Grün Werbung für die Landi machen? «Ja, wer will, kann das.» Dieser Werbeliberalismus ist den befreundeten Schwingern Teufelszeug.
Es gibt den schönen Brauch, dass zum Eidgenössischen Schwingfest eine Anzahl Hornussergesellschaften eingeladen werden können. Wie beim Schwingen ist man auch beim Hornussen grundsätzlich per Du. Beim Eidgenössischen Schwingfest 2013 in Burgdorf sollte den Hornussern die grosse Ehre eines Einmarsches in die Schwingerarena zuteilwerden. Aber unter den strikten Werbebedingungen der Schwinger, die nur sehr eingeschränkt Reklame auf Mann machen dürfen. Die Hornusser verzichteten: Sie hätten alle neue Wettkampfbekleidungen und T-Shirts machen müssen.
Anders als beim Schwingen gibt es keine vergleichbaren Gabentempel mit Naturalgaben oder Lebendpreisen (Rinder, Stiere, Fohlen). Die Preise (Glocken, Treicheln, Trinkhörner) haben zwar auch einen materiellen, aber in allererster Linie einen hohen emotionalen Wert. Ein paar Werbebatzen kommen im Hornussen von den örtlichen Betrieben. Einem Baugeschäft, einer Spenglerei oder einer Garage, und die Spieler der lokalen Gesellschaft tragen dann ein entsprechendes T-Shirt oder hängen auf dem Spielplatz ein Werbebanner auf.
Bruno Ryser vermutet, dass selbst der Schlägerkönig (der Hornusser, der beim Eidgenössischen im Königsausstich am meisten Weitepunkte erzielt) bei weitem nicht einmal 20'000 Franken Werbeeinnahmen erzielen kann. Diese Summe sei utopisch. Schwingerkönige sind mit ihrem Manager unzufrieden, wenn sie nicht mindestens eine halbe Million Werbefranken hereinholen. Pro Jahr. Wenn einer im Hornussen Werbung machen kann, spendiert er ohnehin das Geld in die Mannschaftskasse. Denn die Kameradschaft wird in keinem anderen Sport so ehrlich zelebriert.
Ein Meisterschaftsspiel an einem Samstag oder Sonntag beginnt so gegen 10.00 Uhr, und nach Spielschluss wird in den Hornusserhütten neben dem Spielfeld zusammen ausgiebig gegessen und getrunken. Es kann dann schon vorkommen, dass die letzten im Abendrot nach Hause fahren. Die Gesellschaften haben in der Regel ein Stück Land gepachtet und richten dort ein permanentes Trainings- und Spielfeld ein und bauen dazu eine Hornusserhütte. Eine der vielen Ursachen für das Beizensterben im Bernbiet ist das Ausbleiben der Umsätze durch die Hornusser, die nach einem Spiel in ihren eigenen Hütten und nicht mehr in der Beiz zechen und schmausen.