Damals tönt es vor allem wie ein frommer Wunsch. «Hurra, wir haben ein Meisterrennen», rufen die Schweizer Zeitungen Ende November in den Blätterwald. Der FC Zürich hat da die Young Boys gerade 3:1 bezwungen und mit zwei Punkten Vorsprung und einem Spiel mehr die Tabellenführung übernommen. Und doch dürfte in der Fussball-Schweiz nach diesem 15. Spieltag kaum jemand daran geglaubt haben, dass am Ende dieser Saison in der Super League ein anderes Team als YB zuoberst stehen würde.
Seit dem 6. Spieltag hatten die Berner die Leaderposition inne, am 17. hatten sie den FCZ wieder überholt, und nach der 37. Runde ist YB definitiv nicht mehr von der Spitze zu verdrängen. Alles wie gehabt also, könnte man meinen, mit einem dominanten Meister aus der Hauptstadt, der sich seinen sechsten Meisterpokal in den letzten sieben Jahren sichert.
Der Fokus auf die Rangierung verwässert aber das Bild einer Saison, die alles andere als gradlinig und konstant verlief, und für die es phasenweise realistisch schien, dass YB wieder einmal ohne Titel dastehen könnte.
Trainer Raphael Wicky startete mit viel Kredit in seine zweite Saison in Bern. Zu Recht. Schliesslich hatte der Walliser im Vorjahr beinahe das Maximum herausgeholt, die Young Boys zum dritten Double aus Meisterschaft und Cup gecoacht. Einzig europäisch lief es da mit dem Ausscheiden in der Qualifikation zur Conference League nicht nach Wunsch.
Doch als Wicky in der Folgesaison diese Scharte auszuwetzen vermochte und YB dank des Weiterkommens in den Playoffs gegen Maccabi Haifa zum dritten Mal in der Klubgeschichte in die Gruppenphase der Champions League einzog, schien es nur eine Frage der Zeit, bis der auslaufende Vertrag mit dem Erfolgstrainer verlängert werden würde. Immer wieder wurden im Herbst Fragen nach der Vertragssituation des 47-Jährigen aufgeworfen, und mit jeder Woche, die ohne die scheinbare Vollzugsmeldung eines neuen Kontrakts verstrich, mehrten sich die Gerüchte, dass die Ehe zwischen Wicky und YB vielleicht doch nicht so eine harmonische sein könnte.
Die Erfolge waren stets das gewichtigste Argument für Wicky, schliesslich gewann er Spiele, in denen seine Mannschaft spielerisch nicht zu überzeugen vermochte. Und er schien die Gabe zu besitzen, dass seine Spieler in den besonders wichtigen Partien ihre beste Leistung abrufen können: Das war im Playoff-Rückspiel gegen Maccabi Haifa so (3:0), aber auch im entscheidenden Gruppenspiel gegen Roter Stern Belgrad (2:0), das den Bernern das erstmalige Überwintern nach einer Gruppenphase der Königsklasse sicherte.
Diese Erfolge brachten den Young Boys Millionen ein und festigten das Bild, dass YB unter Wicky parat ist, wenn es wirklich zählt. Doch die Skepsis verschwand nie ganz aus den Berner Lauben. Zu uninspiriert würden die Young Boys spielen, zu berechenbar, zu unspektakulär. Es sind Stimmen, die auch in der Vorsaison schon wahrnehmbar waren. Und die Vorahnung aufkommen liessen, dass Wickys Position gar nicht so gefestigt sein könnte, sollte einmal eine Baisse kommen.
Es ist März, als sich diese Vorahnung bewahrheitet. Erst scheitern die Young Boys in den Sechzehntelfinals der Europa League an Sporting Lissabon, dann verlieren sie den Spitzenkampf in der Liga gegen Servette (0:1) und müssen die Genfer auf vier Punkte herankommen lassen, dann scheiden sie in den Viertelfinals des Schweizer Cups gegen Challenge-League-Leader Sion aus (1:2), und schliesslich endet nach dem 0:1 in Zürich eine unheimliche Rekordserie: Seit April 2017 hatten die Young Boys in 248 Super-League-Runden nie zwei Partien nacheinander verloren.
Es sind elf Tage, die in Bern Krisenstimmung aufkommen lassen. Christoph Spycher, der VR-Delegierte Sport, spricht von einer festgefahrenen Situation, und Sportchef Steve von Bergen sagt, dass die Leistungen der Mannschaft schon länger nicht den Erwartungen entsprochen hätten und die Hoffnung darauf, in dieser Konstellation noch die Wende zu schaffen, immer kleiner geworden sei.
Es sind Voten, die in der Regel von Verantwortlichen zu vernehmen sind, deren Teams sich im Abstiegskampf befinden. Dass YB jedoch als Leader zu dieser Massnahme greift und den Trainer entlässt, sorgt bei Aussenstehenden für Unverständnis. «Haben sie denn das Gefühl, sie seien Bayern München?», ist in Kommentarspalten zu lesen. Und der gemeine Berner weiss, dass es in der Regel nicht gut um den geliebten BSC steht, wenn dieser in einem Satz mit dem deutschen Rekordmeister genannt wird.
Das war schon 2010 so, als der damalige Verwaltungsratspräsident Benno Oertig die berüchtigte «Phase 3» ausrief und eine «Hochphase wie Bayern von 20 bis 30 Jahren» prophezeite. YB scheiterte kolossal im Versuch, sich mit viel Geld schnell an die nationale Spitze zu hieven. Erst als Spycher im Herbst 2016 zum Sportchef aufstieg, wurde im Wankdorf weitsichtiger und vor allem erfolgreicher gewirtschaftet.
Doch auch das Duo Spycher/Von Bergen überstand die jetzige Saison nicht, ohne selbst in die Kritik zu geraten. Denn während Wicky für sein Spielsystem kritisiert wurde, musste die sportliche Führung hören, dass dem Trainer nach zahlreichen Abgängen und verletzungsbedingten Ausfällen gar nicht mehr das Spielermaterial zur Verfügung stehe, um auf dem höchsten Level Leistung zu erbringen.
Der unzufriedene Jean-Pierre Nsame verliess Bern Richtung Como, Ulisses Garcia schloss sich Marseille an, im Sommer war mit Cédric Zesiger bereits ein anderer Leistungsträger weitergezogen. Sein designierter Ersatz in der Innenverteidigung, Loris Benito, riss sich Anfang Februar in Lausanne das Kreuzband. Zudem schienen die neu dazugestossenen Spieler lange den Ansprüchen nicht zu genügen: Darian Males, Silvere Ganvoula, Saidy Janko, Lukasz Lakomy und Noah Persson konnten sich in Gelb-Schwarz lange nicht so in Szene setzen, wie sich das die Führungsriege erhofft hatte.
Und als Joël Magnin zum Interimstrainer für zwölf Spiele ernannt wurde, wurden Zweifel laut, ob YB mit der temporären Beförderung des U21-Trainers nicht denselben Fehler begehe wie im März 2022, als nach der Entlassung von David Wagner mit Matteo Vanetta ebenfalls eine interne Lösung erfolglos versucht hatte, die Saison zu retten.
Es sind Widrigkeiten, auf die Spycher und Von Bergen nun mit dem 17. Meistertitel in der Vereinsgeschichte im Sack gelassener blicken können. Es spricht für die Stabilität des Gesamtkonstrukts YB, dass in einer Saison mit zahlreichen «Wellenbewegungen», wie sie Magnin unlängst bezeichnete, doch wieder etwas erreicht wurde, das in Bern jahrzehntelang als Wunschtraum galt.
Zwei Statistiken belegen indes, dass die grössten Konkurrenten Servette und Lugano durchaus Chancen gehabt haben könnten gegen dieses YB: Die Berner sind das erste Team seit dem FCZ 2007, das mit mehr als sechs Niederlagen triumphiert, und sie sind der erste Meister der Super League (seit 2003), dessen Punkteschnitt unter 2,00 liegt.
Dass CEO Wanja Greuel per Ende Juni seine Kündigung eingereicht hat, zeigt zudem, dass es im Wankdorf hinter den Kulissen deutlich mehr rumort als auch schon. Von einem verlorenen Machtkampf mit Verwaltungsrat und Mitinhaber Spycher ist die Rede, wenn nach Gründen gesucht wird, weshalb der Deutsche die Young Boys nach knapp acht Jahren in dieser Position verlässt. Für die Verantwortlichen steht jedenfalls sowohl sportlich als auch unternehmerisch ein herausfordernder Sommer an, der wegweisend dafür sein dürfte, ob YB seine Vormachtstellung wird behaupten können.
Joël Magnin geht als achter Meistertrainer in die Geschichte der Young Boys ein. Der Neuenburger hat eine grosse Verbundenheit zum Verein und kehrt nun in seine eigentliche Position als Trainer der U21 zurück. Patrick Rahmen, der Winterthur in die Finalrunde geführt hat, soll in Bern nun mit seiner offensiven Spielweise den Erfolg weiterführen und sowohl auf den Rängen als auch in der Chefetage für Begeisterung sorgen.
«YB ist eine normale Mannschaft geworden», sagte TV-Experte Carlos Varela im April und sprach eigentlich davon, dass die Young Boys deutlich weniger dominant aufträten wie in früheren Jahren. Etwas anderes scheint aber auch «normal» geworden zu sein: Dass der goldene Meisterpokal zum Saisonende in Bern steht. (pre/sda)