3:3! Tor in der Nachspielzeit! Unglaubliche Emotionen! Als die Fussball-Nationalmannschaft Ende Juni im EM-Achtelfinal gegen Frankreich aus einer schier aussichtslosen Situation (1:3-Rückstand) den grössten Fussballabend der Schweizer Geschichte machte, da schien klar: noch verrückter? Unmöglich!
Der Samstagabend in Zürich zeigt nun: Doch, es geht noch verrückter. Wieder ein 3:3, wieder ein Tor in der Nachspielzeit. Und danach unendliche Diskussionen und Emotionen. Weil dem FC Basel in diesem grossartigen Spiel gegen den FC Zürich wenige Sekunden vor dem Ausgleich sein 4:2 wegen Offside aberkannt wird. Nicht vom Schiedsrichter, sondern vom Videoschiedsrichter (VAR).
Was ist passiert? Zunächst einmal gilt es festzuhalten: Ja, das 4:2 des FCB war nicht korrekt. Es war Offside. Weil Valentin Stocker bei Quintillas Schuss dem FCZ-Torhüter Yanick Brecher im Sichtfeld stand. Aber der VAR taxierte nicht Stockers Vergehen als irregulär, sondern einen Pass auf Sergio López einige Sekunden zuvor, der diese Szene erst eingeleitet hatte. Und das war falsch. Weil ein FCZ-Verteidiger mit einer Abwehraktion für eine «neue Spielsituation» gesorgt hatte.
Aufgrund der VAR-Intervention durfte der FCZ also den fälligen Freistoss an der Mittellinie ausführen anstatt im eigenen Strafraum – worauf die Zürcher dank Ceesay in letzter Sekunde tatsächlich noch den Ausgleich erzielten. Was die Diskussionen im Anschluss an die Partie natürlich befeuerte.
Der FC Basel fühlte sich benachteiligt. Das Verständnis von Trainer Patrick Rahmen für die Geschehnisse hielt sich in engen Grenzen. Fabian Frei schrie gar durch die Katakomben des Stadions, es sei «kein Offside» gewesen – und man solle das unbedingt so schreiben.
Natürlich ist der Ärger verständlich, wenn am Ende eines aufwühlenden Spiels zwei Punkte auf dramatische Art und Weise verloren gehen. Und doch tut der FCB gut daran, auf sich selbst zu besinnen, anstatt Verschwörungen zu wittern. Denn was das Titelrennen angeht, herrscht seit gestern eine Art «ausgleichende VAR-Ungerechtigkeit».
Zwei Wochen ist es her, seit ein unverständlicher VAR-Entscheid den grossen Basler Rivalen YB benachteiligte. Die beiden Situationen sind sogar ziemlich vergleichbar. Im Spiel gegen Luzern (1:1 Endstand) wurde YB in der Nachspielzeit ein regulärer Treffer aberkannt. Weshalb die Berner zwei Punkte verloren.
Das ändert natürlich nichts daran, dass gerade ziemlich stürmische Zeiten herrschen für die Schweizer Schiedsrichter. Vor einer Woche sagte Daniel Wermelinger, Chef der Schweizer Schiedsrichter, im Interview mit CH Media: «Wir waren schlicht nicht gut. Punkt. Aber es kann auch bei uns ein Tief geben. Schliesslich sind wir Menschen, keine Roboter.»
Insbesondere die Diskussionen rund um den VAR haben in letzter Zeit erheblich zugenommen. Das ist schade. Denn eines geht in all den emotionalen Voten vergessen: Der VAR macht den Fussball gerechter. Es ist nicht so, dass es keine Fehler mehr gibt. Aber über eine Saison gesehen signifikant weniger. Die Swiss Football League hat die Spiele der Saison 2020/21 untersucht und kam zum Schluss: 51 krasse Fehlentscheidungen konnten dank dem VAR verhindert werden. Das muss sich vor Augen führen, wer nun fordert, den VAR wieder abzuschaffen.
Eine andere Erkenntnis ist nach diesem spektakulären Fussballsamstag viel wichtiger: Es spricht vieles dafür, dass sich die Schweiz endlich wieder einmal auf ein echtes Duell um den Titel freuen darf. Der FCB hat in den letzten Wochen nicht wirklich überzeugt, setzt sich aber gleichwohl an der Spitze fest. Noch immer ist er in der Liga ungeschlagen, als einziges Team. Der Auftritt in Zürich war ein klarer Schritt nach vorne. Und dürfte Mut machen für die nächsten Wochen.
Meister YB dagegen hat viel von seiner Souveränität der letzten Jahre verloren. Beim 1:3 in St.Gallen war die mentale Müdigkeit deutlich zu sehen. Von den letzten fünf Spielen hat YB (Europacup und Cup inklusive) nur eines gewonnen. Und nun ist das Verletzungspech noch einmal grösser geworden. Torhüter David von Ballmoos fehlt wegen einer Schulterverletzung monatelang. Verteidiger Camara musste sich in St.Gallen mit einer Oberschenkelverletzung auswechseln lassen. Und schon am Dienstag geht es in der Champions League weiter. Die Partie in Villareal ist wegweisend. Sie kommt nicht gerade zu einem günstigen Zeitpunkt.
Und der FCZ? Die Zürcher haben sich unter André Breitenreiter zum Spektakel-Team der Liga entwickelt. Für den neutralen Zuschauer ist jedes Spiel mit FCZ-Beteiligung ein Genuss. Es gibt Tore und Chancen im Überfluss. Doch wenn der FCZ sogar noch ein Wörtchen um den Titel mitreden wollte, muss er die Fehler in der Defensive dringend abstellen. 23 Gegentore in 12 Meisterschaftsspielen sind deutlich zu viel – und die Tendenz geht in die falsche Richtung. Im Moment mögen das die Emotionen des späten Ausgleichs gegen den FCB übertünchen. Auf Dauer steht Breitenreiter aber vor einer ziemlichen schwierigen Aufgabe.
Weil gefühlt an jedem Spieltag über die eklatanten VAR-Fehler berichtet und diskutiert wird. Manchmal greift er bei einer umstrittenen Aktion ein, dann bleibt er stumm bei einem klaren Fehlentscheid, um danach einen richtigen Schiri-Entscheid in Frage zu stellen.