Plötzlich war es da, dieses Twitter-Profil, in dem sich ein angeblich schwuler Spieler der 2. Bundesliga anonym Gedanken zu seinem Coming-out macht. Es geht um Scheinfreundinnen, Existenzängste, um Unterstützung der Liga, der Vereine, um das ganz alltägliche Versteckspiel. Quasi über Nacht gewann der Account an die 15'000 Follower, seine Tweets wurden sofort dutzendfach kommentiert.
Nach einigen Ungereimtheiten kamen Zweifel an der Echtheit auf: Warum twittert er am Wochenende während Ligaspielen? Warum wendet er sich via Twitter an den Deutschen Fussballbund? Doch ob echt oder nicht: Die Diskussion war im Gang, das Interesse immens.
Noch immer ist Homosexualität im Männerfussball ein riesiges Tabu. Fussball, so gerne als Spiegel der Gesellschaft bezeichnet, erscheint in diesem Fall im Rückspiegel: Um Jahre scheint er der westlichen Gesellschaft bezüglich Akzeptanz von Homosexualität hinterherzuhinken. Noch immer gibt es in den grossen Ligen Europas keinen aktiven Profi, der offen zu seiner homosexuellen Orientierung stehen würde.
Es gibt Pascal Erlachner, den inzwischen zurückgetretenen Schweizer Schiedsrichter. Es gibt Thomas Hitzlsperger, Ex-Profi und heute Sportvorstand bei Stuttgart. Es gibt Corny Littmann, einst Präsident des FC St.Pauli, es gibt Anton Hysen, Profi in Schweden, und Andy Brennan, Profi in Australien. Aber in Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien, England? Da gibt es – offiziell – keine schwulen Fussballer.
«Homosexualität würde im Männerfussball viele Konzepte gefährden», sagt Marianne Meier, Historikerin und Sportpädagogin am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern. Sie recherchiert seit längerem zum Thema Homosexualität im Fussball. Wie in der Gesellschaft herrsche auch im Fussball eine gewisse Heteronormativität, so Meier: die Annahme, dass der heterosexuelle Mensch der Normalität entspricht. Im Gegensatz zur Gesellschaft gibt es aber im Sport, und gerade im Fussball, deutlich weniger Anzeichen mit dieser Norm zu brechen.
Meier führt dies auf die Geschlechtsbilder zurück, welche im Sport so wichtig sind. Historisch gesehen sei Sport männlich geprägt, erwartet werden von Sportlern auch männliche Attribute, sie sollen stark, muskulös, mutig sein. «Schwulsein hat da keinen Platz, weil es klischeebedingt eher mit weiblichen Begriffen konnotiert ist.»
An den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro waren so viele LGBT-Athletinnen und Athleten wie noch nie am Start, 66 an der Zahl. Nur 16 davon waren Männer, darunter Pferdesportler, Turmspringer, Sportgymnasten, Geher. Teamsportler? Fehlanzeige. «Schwule brechen im Sport ein noch grösseres Tabu als lesbische Athletinnen», sagt Meier. Die klischierte lesbische Frau ist muskulös und stark und passt so besser in die Sportwelt als der schwach klischierte schwule Mann.
Lara Dickenmann steht auf der Zielgeraden ihrer Fussballkarriere. Die 33-jährige Luzernerin hat die Champions League gewonnen, zig Meisterschaften in Deutschland und Frankreich, sie ist mit 135 Spielen Rekordnationalspielerin für die Schweiz. Sie hat ihr Leben im Frauenfussball verbracht, erst letztes Jahr gab sie offen ihre Homosexualität bekannt.
«Ich wollte nicht die sein, die Fussball spielt und auch noch lesbisch ist», sagt die Mittelfeldspielerin des VfL Wolfsburg. Sie wollte kein Klischee erfüllen, doch im Fussball fand sie Unterstützung und Vorbilder: Nilla Fischer, die heute 35-jährige schwedische Rekordspielerin, seit 2013 verheiratet mit ihrer Ehefrau. Oder Megan Rapinoe, Weltmeisterin mit den USA, seit 2012 offen homosexuell und bei Lyon einst Teamkollegin von Dickenmann.
Während sich im Frauenfussball immer mehr Spielerinnen outen, er sich quasi von innen nach aussen gewandelt hat, fehlt bei den Männern genau das: Coming-Outs von Aktiven. «Lesbische Frauen kommen im Fussballgeschäft vor allem dann gut an, wenn sie sich möglichst weiblich präsentieren», sagt Meier. So blieben sie gut vermarktbar, wie etwa das Glamourpaar Alisha Lehmann und Ramona Bachmann.
Wie paradox die Tabuisierung von Homosexualität im Männerfussball eigentlich ist, zeigt alleine das Frisurenfaible unter den Kickern, eine der augenfälligsten Ausprägungen eines Körperkults, der lange Zeit eher weiblich konnotiert war. «Deswegen müssen viele Fussballer noch deutlicher beweisen, dass sie nicht schwul sind», sagt Meier. Ronaldo, der personifizierte Körperkult, teilt fast verzweifelt mit: Seht her, ich habe viele Frauen, und schaut, ich habe mehrere Kinder!
Ähnlich konträr ist die heterosexuelle Zärtlichkeitskultur auf dem Fussballplatz. Wäre Homosexualität im Fussball sichtbar, so verlöre sie ihre Unbefangenheit. Die Umarmungen, die Küsschen, die Jubelhaufen – all das geht nur, «weil sich alle einig sind, dass niemand schwul ist», wie es Meier erklärt.
Was würde denn auf einen schwulen Spieler im Profizirkus zukommen? Fussballer werden in ihrem Umfeld ständig beurteilt. Im seriösen Fall nach ihrer Leistung, doch in den grösseren Ligen greifen Fans und gewisse Medien bei schlechten Leistungen jede Schwachstelle an – Homosexualität würde da schnell als eine ausgemacht.
Und was braucht es, damit sich die starren, homophoben Strukturen im Fussball endlich aufweichen? «Vorbilder», sagt Dickenmann, also: «Coming-Outs. Am besten gleich mehrere zusammen, damit sich der Druck verteilt.» Die lesbische Nationalspielerin ist sich sicher: «Irgendwann wird er kommen und eine Welle auslösen.» Und meint ihn: den ersten berühmten schwulen Fussballer.