Am 13. November 2017 lag der italienische Fussball am Boden. «Die Apokalypse hat eine dunkelblaue Farbe», schrieb «La Repubblica» am Tag nach dem Scheitern im WM-Playoff gegen Schweden. Erstmals nach 60 Jahren hatte der vierfache Weltmeister eine WM verpasst. Der «Corriere dello Sport» sprach von der «schmerzhaftesten Demütigung» in der italienischen Fussball-Geschichte. «Eine Beschämung, eine sportliche Schande, die keinen Vergleich kennt.»
1336 Tage später ist Italiens Fussball auferstanden. Das Spiel der Squadra Azzurra beinhaltete alles, was den modernen Fussball ausmacht: Pressing, schnelles Umschaltspiel, eine perfekte Organisation, taktische Variabilität, aber auch Anpassungsfähigkeit, Raffinesse und Cleverness. Und im Gegensatz zum Turnier 2000, als Italien im Final gegen Frankreich nur Sekunden vom Triumph entfernt war, hatte es auch das nötige Quäntchen Glück.
TUTTO VERO 🇮🇹✌️#EURO2020 pic.twitter.com/rQTN37fooZ
— Roberto Mancini (@robymancio) July 11, 2021
Vor dem Turnier hatte sich Nationaltrainer Roberto Mancini in einem offenen Brief an das italienische Volk gewandt. Er erinnerte an das schwierige letzte Jahr und gedachte der Opfer der Coronavirus-Pandemie, deren Folgen «noch immer offensichtlich» seien. Mancini sprach vom Sport, der viele positive Emotionen bringen könne, die sie dringender denn je bräuchten, und schloss mit den Worten: «Vereint unter einem einzigen blauen Himmel, das blaue Hemd tragend, in einem einzigen Chor, der mehr als 60 Millionen Italiener vereint: FORZA AZZURRI!»
Den pathetischen Worten des Commissario Tecnico liess das Team von der ersten Minute an Taten folgen. Mit ihrem Offensivspektakel gegen die Türkei und die Schweiz im Römer Olimpico zum Auftakt in die EM trat die Squadra Azzurra im Land eine Welle der Euphorie los. Ganz Europa schwärmte vom italienischen Offensivfussball.
Doch der Parcours wurde schwieriger. Trotz makelloser Vorrunde fand sich Italien in der K.o.-Phase in der deutlich schwierigeren Tableauhälfte wieder. Zuerst machte Österreich dem Favoriten das Leben schwer, dann wartete die Weltnummer 1 Belgien, im Halbfinal der dreifache Europameister Spanien. Und als Krönung folgte ein Duell mit dem Gastgeber in der Kathedrale des Fussballs, dem Wembley-Stadion in London.
Die Azzurri schafften es aber, Widerstände zu überwinden und ihr Spiel im Lauf des Turniers anzupassen. Es war der Schlüssel zum Erfolg. Dem Spektakel der Vorrunde wich die temporäre Rückkehr zu alten Tugenden, als es gegen Belgien einen Vorsprung zu verwalten galt oder gegen die spielerisch dominanten Spanier Cleverness und mentale Stärke gefragt waren. Giorgio Chiellinis Lockerheit bei der Platzwahl vor dem Penaltyschiessen im Halbfinal stand als Symbol dafür.
Im Vergleich zu früheren Triumphen ragten nicht einzelne Spieler heraus. Torhüter Gianluigi Donnarumma war da, als es ihn brauchte, Leonardo Bonucci und Captain Chiellini bewiesen, dass sie trotz fortgeschrittenen Alters nicht viel von ihrer Klasse eingebüsst haben. Die Stürmer Ciro Immobile und Lorenzo Insigne schossen ihre Tore.
Aber auch Spieler aus der zweiten Reihe traten ins Rampenlicht. Manuel Locatelli stach als Ersatz für den zu Beginn des Turniers angeschlagenen Marco Verratti gegen die Schweiz als Doppeltorschütze heraus. Federico Chiesa traf gegen Österreich als Joker und gegen Spanien mit einer herrlichen Einzelleistung, auch Matteo Pessina schoss auf dem Weg in den Final zwei Tore. Aussenverteidiger Leonardo Spinazzola, eine der Entdeckungen des Turniers, wurde nach seiner Verletzung gegen Belgien zum tragischen, am Ende aber doch zum gefeierten Helden.
Mancini hielt Wort. Der als Spieler oftmals «Unverstandene» des Calcio schaffte es Nationaltrainer, die Azzurri zu vereinen. Innerhalb von drei Jahren formte er aus den sportlichen Trümmern ein Team, das den Gipfel Europas stürmte. 34 Spiele ohne Niederlage sind ein Beleg dafür, der erste EM-Titel seit 1968 ein noch grösserer. (pre/sda)
Verdienter Europameister.