«Should I stay or should I go?» heisst eines der bekanntesten Lieder der britischen Punk-Band «The Clash». «Soll ich bleiben oder soll ich gehen?» lautet auch die Frage, die sich in wenigen Wochen für Lian Bichsel stellt. Doch dazu später mehr.
Als wir den 19-Jährigen aus dem solothurnischen Wolfwil in Nordamerika per Videocall erreichen, sitzt er vor einer Mall in Rockford, Illinois. Einer Stadt, etwa 140 Kilometer westlich von Chicago gelegen. Sein Team, die Texas Stars, befindet sich derzeit auf einem Road-Trip, einer Serie von Auswärtsspielen in der American Hockey League (AHL), der Farmteam-Liga der NHL. Nächster Gegner der Stars sind die in Rockford ansässigen «Icehogs».
In der AHL ist die Welt weit weniger glamourös als in der besten Liga der Welt. Einen Hauch von NHL durfte Lian Bichsel in den ersten Wochen seines Nordamerika-Abenteuers erleben. Im Vorsaison-Trainingslager der Dallas Stars, die ihn 2022 an 18. Stelle in der jährlichen NHL-Talentziehung ausgewählt hatten, kam er in vier Testspielen zum Einsatz und hinterliess dabei einen sehr guten Eindruck. «Es war eine schöne Erfahrung, mit all diesen Topspielern zusammenspielen zu dürfen», erinnert er sich lächelnd an seine ersten Erfahrungen.
Aber eben: Als es hart auf hart ging und die Dallas Stars ihren Kader auf Normalgrösse trimmen mussten, da fand schliesslich auch Lian Bichsel keinen Unterschlupf mehr in der NHL-Crew. Sein Pech: Die Stars gehören zu den Titelfavoriten und verfügen entsprechend über einen sehr breiten, gut besetzten Kader. Aber er sagt: «Ich war einer der letzten Spieler, die dem Kaderschnitt zum Opfer fielen. Ich weiss, dass ich nahe dran bin.» Will heissen: Sollte sich einer der arrivierten Stars-Verteidiger verletzen, dann könnte Bichsel einer der Ersten sein, der als Ersatz zum Handkuss kommt.
Vorderhand spielt Lian Bichsel also für die Texas Stars in der AHL. Und betreibt dort weiterhin beste Werbung in eigener Sache. In den bisher sieben Spielen stand er regelmässig über 20 Minuten auf dem Eis, kam auch im Powerplay und im Penalty-Killing zum Einsatz. Sprich: Das Trainerteam setzt den 1.96-Meter- und 100-Kilo-Mann aus Wolfwil in allen Situationen ein. Er sagt: «Ich wollte in der AHL eine grössere Rolle übernehmen. Das war meine Erwartung und mein Anspruch.»
Lian Bichsel with his first goal of the year from a pretty nasty-looking wrister. Mavrik Bourque with the assist, now tied with Logan Stankoven in points with 13. These kids are nuts. pic.twitter.com/1kxhaBdowP
— David Castillo (@DavidCastilloAC) November 5, 2023
Schliesslich geht es im Farmteam, welches grossmehrheitlich mit Nachwuchsspielern der Dallas Stars besetzt ist, vor allem darum, Werbung in eigener Sache zu machen, der Konkurrenzkampf ist gross. «Jeder Spieler, der in der AHL spielt, hat eigentlich das Ziel, so schnell wie möglich in der NHL zu landen. Entsprechend will und muss man sich immer zeigen. In jeder Partie geht es um die Wurst», erzählt Lian Bichsel.
Er selber hat in seinen bisher sieben Einsätzen für die Texas Stars bereits einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Er fällt nicht nur mit seiner physischen Spielweise auf, sondern versucht auch spielerische Akzente zu setzen und schaltet sich immer wieder in der Offensive ein. Aber sein Hauptverkaufsargument bleibt sein Körper. Bichsel scheut die Konfrontation nicht und wurde auch schon drei Spiele gesperrt, weil er nach einem Rencontre mit einem Gegenspieler, der ihn nach einem Spielunterbruch gecheckt hatte, die Strafbank verliess, um seinem Kontrahenten nochmals gehörig die Meinung zu geigen.
Man spürt: Lian Bichsel will sich positionieren, will den Dallas Stars beweisen, dass sie einen Verteidiger gedraftet haben, der sich gegen Widrigkeiten durchsetzen und sich behaupten kann. «Die AHL ist wie ein Dschungel. Ich muss mir einen Namen und Respekt verschaffen in dieser Liga. Man darf sich nicht alles gefallen lassen. Das gehört dazu», sagt der Mann, der sein Eishockey-Einmaleins beim EHC Olten erlernte.
Gut für Bichsel ist sicher der Umstand, dass er sich auf den kleineren Spielfeldern in Nordamerika pudelwohl führt. Mit seiner Körpergrösse und seiner intensiven Spielweise ist er noch mehr im Vorteil. «Natürlich muss man noch mehr aufpassen, weil alles noch viel schneller geht als in Europa und entsprechend auch mehr passieren kann. Aber ich habe mich recht schnell eingelebt und angepasst.»
Lian Bichsel (#20) took a hit after the whistle from Kyle Marino and then, after being put in the penalty box, came out to jaw with Marino some more.
— 100 Degree Hockey (@100degreehockey) October 18, 2023
He was given a game misconduct for leaving the penalty box. Video showing the game misconduct conduct 👇 pic.twitter.com/6O9ygHB9tF
Aber wie weit weg ist er denn nun von der NHL? Lian Bichsel formuliert es so: «In meinem Kopf ist die NHL extrem weit weg. Wenn ich aber anderen Leuten in der Stars-Organisation oder auch von aussen Glauben schenken will, dann bin ich sehr nahe dran.» Er weiss: In der NHL kann es manchmal sehr schnell gehen. Es braucht eine Verletzung eines Dallas-Verteidigers, und schon könnte sich ein Türchen öffnen. Bichsel unterstreicht:
Vorderhand liegt sein Lebensmittelpunkt aber in Cedar Park, einem Vorort der texanischen Hauptstadt Austin. Dort tragen auch die Texas Stars ihre Heimspiele aus. Und dort hat Lian Bichsel zusammen mit zwei Teamkollegen, dem Tschechen Matej Blümel und dem Kanadier Chase Wheatcroft, in einem gemieteten Haus eine WG.
«Nachdem ich im September noch Mühe hatte, als ich wochenlang im Hotel leben musste und alles vorgegeben war, fühlt es sich für mich jetzt schon eher nach einem Zuhause an. Ich habe mein Zimmer, wir können selber kochen, können uns selber organisieren. Das bereitet schon mehr Spass», erzählt der Solothurner aus seinem Alltag neben dem Eis.
Apropos Alltag: Für Heimweh hatte Lian Bichsel, der die letzten beiden Saisons in Schweden, bei Leksand gespielt hat, bisher kaum Zeit. «Das war in Schweden fast schwieriger, weil ich dort eher das Gefühl hatte, dass man mich ja aus der Schweiz jederzeit besuchen könnte. Jetzt lebe ich zwölf Flugstunden entfernt. Zudem liegt mein Fokus derzeit wirklich voll auf dem Hockey. Da hat kaum etwas anderes Platz», unterstreicht er. Immerhin: Über die Weihnachtstage ist ein Besuch der schwedischen Freundin geplant. Und gegen Ende Saison vielleicht auch mal einer der Restfamilie.
Womit wir wieder bei «The Clash» angekommen sind. Trotz aller positiver Entwicklungen besteht die Möglichkeit, dass Lian Bichsel die laufende Saison nicht in Nordamerika, sondern in Schweden bei Rögle beendet. Er hat eine Klausel im Vertrag, die ihm eine temporäre Rückkehr nach Europa ermöglichen würde, wenn er bis am 1. Dezember keine Kaderposition bei den Dallas Stars innehat.
Nun steht Bichsel also vor der grossen Frage: «Should I stay or should I go?» Eine Antwort muss er noch nicht geben. Trotzdem ist es logisch, dass der Prozess der Entscheidungsfindung bereits auf Hochtouren läuft. Er sagt: «Es ist immer noch alles offen. Ich weiss noch nicht, was besser ist für meine Eishockey-Zukunft. Ich brauche sicher noch etwas Zeit. Mein Agent und mein Vater helfen mir. Sie haben viel Erfahrung. Aber ich rede auch mit vielen Spielern. Es ist immer interessant, die verschiedenen Perspektiven zu betrachten.»
Betrachtet man den bisherigen Saisonverlauf von Lian Bichsel in Nordamerika objektiv, dann würde eine Rückkehr nach Europa erstaunen. Einerseits ist er sehr nahe dran, erste Erfahrungen in der NHL sammeln zu können. Andererseits erhält er in der AHL die Möglichkeit, mit viel Eiszeit wertvolle Erfahrungen in einem rauen Klima zu sammeln. Dem gegenüber steht die Perspektive, in der schwedischen Profiliga – in einem anderen Umfeld – eine tragende Rolle zu spielen.
Lian Bichsel ist sich seiner komfortablen Ausgangslage bewusst und sagt: «Wie auch immer ich mich entscheiden werde: Es ist so oder so eine gute Entscheidung.» (aargauerzeitung.ch)