Der Parkplatz vor der Arena ist bei weitem nicht belegt und gratis. Ein wenig unheimlich ist das aufgeregte Krähen der Raben auf den hohen Bäumen hinter dem Parkplatz in der nebligen Nacht am frühen Sonntagabend. Wie der Vorspann eines Horrorfilms. Aber keine Bange: Die Welt ist friedlich im Mittelland. Der Chronist ist auf dem Weg zum international wichtigsten Hockeyanlass der Altjahrswoche. Und das ist hockeytechnisch eben nicht der Spengler Cup oben in Davos. Sondern das Fünfländer-Turnier der U18-Junioren in der Regio Bank Arena unten in Zuchwil, einem Vorort von Solothurn. Sozusagen der «alternative Spengler Cup». Oder etwas polemischer formuliert: der «Anti-Spengler Cup».
Dabei sind nicht einmal die besten Talente aus der Slowakei, Tschechien, Finnland und Deutschland angereist. Die hochkarätigsten sind bereits in die U20-WM-Teams integriert. Wie Biels Jonah Neuenschwander, der eigentlich vom Alter her hier sein müsste, nun aber bereits die gleichzeitig stattfindende U20-WM in Amerika drüben bestreitet. Und doch sind über 50 NHL-Scouts angereist. Das Stadionbeizli ist für die Talentsucher (Talentsucherinnen sind keine da) in einen Arbeitsraum mit Gratis-Internetanschluss umfunktioniert worden.
Warum diese besondere Wichtigkeit? Das internationale Junioren-Turnier in Zuchwil vom 26. bis zum 30. Dezember ist sozusagen ein «Talent-Wühltisch». Die Erst- und Zweitrunden-Kandidaten für den nächsten und übernächsten NHL-Draft – die ganz grossen Talente also – sind weitgehend bekannt. Bei den WM-Turnieren der Junioren gibt es keine neuen, kommenden Stars mehr zu entdecken. In Zuchwil aber schon.
So wichtig wie die richtige Wahl in der ersten oder zweiten Draft-Runde sind für den langfristigen Erfolg gute «Picks» in der vierten, fünften, sechsten oder siebten Runde. Wenn auch dort die Rechte für gute Spieler gesichert werden können, bekommt eine NHL-Organisation eine ganz andere sportliche Tiefe. Deshalb ist das Wissen über die zweite Garde der Talente so wichtig – und zu finden sind sie am ehesten auf dem «Talent-Wühltisch». Bei Turnieren wie in der Altjahrswoche in Zuchwil. Es lohnt sich also sehr wohl, sich anzustrengen: Auch wer es nicht ins U18- oder U20-WM-Team schafft, kann sich an Turnieren wie eben diesem hier in die Notizblöcke der NHL-Scouts spielen.
Thomas Roost arbeitet als Europa-Scout für das Zentralbüro der NHL, das seine Rapporte den NHL-Klubs als Zweitmeinung zur Verfügung stellt und jedes Jahr die Liste der talentiertesten Spieler erstellt. Logisch also, dass er nicht beim Spengler Cup oben im sonnigen Davos Spieler beobachtet. Sondern hier unten in nebligen Zuchwil. Er sagt: «Zuchwil ist eigentlich für die NHL-Scouts eher noch wichtiger als die U18- oder U20-WM. Es dürften wieder mehr als 50 Scouts hierhergekommen sein.» Sie zahlen für den Arbeitsraum im umgenutzten Stadionbeizli während des ganzen Turniers lediglich 40 Franken. Verpflegung und Kaffee für die Matchbesucher gibt’s trotzdem. Die Bratwürste vom Stand nebenan gehören zu den Besten, die es in Schweizer Stadien gibt.
Thomas Roost, ein international hoch angesehener Fachmann, ist inzwischen auch als Sportchef in Olten mandatiert. So ergibt sich nebenbei die Gelegenheit zu einer Plauderei sozusagen unter Pfarrerstöchtern über das Wohl und Weh der Oltner Hockey-Kultur. Der Chronist ist der Meinung, Oltens Problem seien zwei Lotter-Goalies. Thomas Roost hat nicht widersprochen, aber auch nicht gesagt, wie er das Problem auf nächste Saison zu lösen gedenkt. Aber das nur nebenbei.
Die Reise nach Zuchwil ist auch eine Reise zu den Ursprüngen unseres Hockeys. Zu den letzten Romantikerinnen und Romantikern. An die Basis, ohne die es später die Spieler ganz oben nicht geben würde. Dorthin, wo es keinen Kommerz gibt. Wo sich alles nur um Hockey dreht. Wo viele freiwillige Helferinnen und Helfer dafür sorgen, dass alles funktioniert. Hockey-Romantik pur.
Der Eintritt kostet zehn Franken. Gut zwanzig Mal weniger als ein Sitzplatz beim Spengler Cup. Immerhin 430 Frauen, Männer und Kinder sind herbeigeeilt, um am frühen Sonntagabend die Partie Schweiz gegen Finnland zu sehen. Darunter einige, die ein Saison-Abo bei einem NL-Klub haben, früher zum Spengler Cup nach Davos fuhren und nun nach Zuchwil zum alternativen Spengler Cup kommen. Ein wenig ist ein Besuch in Zuchwil ein Bekenntnis fürs wahre Hockey und gegen den beim Spengler Cup schon fast obszönen Hockey-Kapitalismus. Fast wie Einkaufen im Hofladen statt im Supermarkt.
Und sicherlich auch eine Frage des Budgets. Zum Beispiel kosteten Hotelzimmer in und um Zuchwil für die vergangene Nacht weniger als 150 Franken. Ein Blick in die entsprechenden Hotel-Buchungsportale zeigte: In Davos oben kostete eine Übernachtungsgelegenheit mehr als 700 Franken. Auch in schäbigen Zimmern.
Das Turnier in Zuchwil gibt es seit bald 20 Jahren. Wie sehr es nur um Hockey und nicht um Geld geht, mag eine Kuriosität zeigen, die ärgerlich und rührend zugleich ist: Das Spiel ist aus. Die Schweizer, die lange tapfer mitgehalten haben, verlieren gegen die Finnen nach einem «spielerischen Stromausfall» (0:6 im letzten Drittel) gleich 2:11. Gottérons Aaron Till Theler (17) ist ein armer Kerl. 53 Pucks prasseln auf ihn herein. Allein 26 im letzten Drittel (Torschussverhältnis 22:53). Auch Finn Bichsel (17) kann seinem Goalie nicht helfen und die Finnen nicht aufhalten. Immerhin schafft es der jüngere Bruder von NHL-Verteidiger Lian Bichsel, die Partie bei etwas mehr als einer Viertelstunde Eiszeit mit einer ausgeglichenen Bilanz zu beenden. Es ist ein schnelles, unterhaltsames, wildes Spiel ohne taktische Schablonen. Sozusagen «Spengler-Cup-Hockey» im besten Wortsinn.
Eine Nachbesprechung mit Kumpels, garniert mit allerlei Prahlereien und Anekdoten im grossen Stadionrestaurant «Time Out» ist für den Chronisten nicht möglich: Unmittelbar nach Spielschluss sperrt eine freundliche junge Frau zu und wir stehen ein wenig verloren draussen vor dem Stadion in der kalten, nebligen Nacht. Dabei ist es erst kurz nach 21 Uhr. Aber um 21 Uhr ist halt Beizen-Schluss. Punkt. Internationales Hockey-Turnier hin oder her. Punkt. Ordnung muss sein. Punkt.
Es geht halt um Eishockey, nicht um Gastronomie und schon gar nicht um VIP-Gastronomie. Geld spielt sowieso keine Rolle. Für die Finanzierung des Teams sorgt ja sowieso der Verband. Und der schwimmt im Geld.