Wie tief darf der SC Bern eigentlich sinken? Es geht nicht um die fachliche Analyse dieser 1:4-Niederlage in Kloten. Nicht um statistische Details. Nicht um die Anzahl Torchancen. Nicht um Angriffsauslösungen oder Defensivverhalten. Es geht um etwas anderes: um den verlorenen hockeytechnischen Anstand.
Anstand im Hockey besteht darin, dass Spieler und Trainer wissen, inwieweit man zu weit gehen darf. Hockey gehört zu den wenigen Sportarten, die den Körperangriff im Rahmen der Reglemente tolerieren. Einschüchterung gewürzt mit Provokationen ist ein zentraler Teil dieses rauen, intensiven Spiels. Erst recht in den Playoffs. Zyniker sagen sogar, Playoff-Hockey sei die Fortsetzung des Hockeys mit anderen Mitteln.
Wenn der SCB die Chance bekommt, mit zwei Siegen gegen Kloten – gegen den Aufsteiger! – den Viertelfinal zu erreichen und die Gemüter zu beruhigen, dann gehört es dazu, ab und an ein bisschen zu weit zu gehen. Darüber wird sich niemand beklagen. In den grossen, meisterlichen Zeiten sind die Berner als «Big Bad Bears» – wenn erforderlich – ein bisschen zu weit gegangen. Aber mit Gespür und Verstand. Sie wussten immer, wie weit sie zu weit gehen durften. So funktioniert Einschüchterung. Meisterliche Einschüchterung.
Beim 5:1 zum Auftakt in Bern war es am Dienstag nicht einmal notwendig, zu weit zu gehen. Am Donnerstag in Kloten aber war es notwendig. Die Berner verloren, weil sie nicht wussten, wie weit sie zu weit gehen durften: Sie verloren den hockeytechnischen Anstand. Die Art und Weise, wie sich beispielsweise Chris DiDomenico oder in der Schlussphase Tristan Scherwey aufgeführt haben, dieses Ausleben der Frustration darf ein SCB-Trainer nicht mehr tolerieren.
Ja, der grosse SCB hat gegen den klug gecoachten Aufsteiger die Fassung und das Spiel verloren. Klotens Jeff Tomlinson hatte aus der Niederlage im ersten Spiel die Lehren gezogen. Berns Toni Söderholm war nicht dazu in der Lage, aus dem Sieg seines Teams die richtigen Erkenntnisse zu gewinnen.
Auf wenige Tage komprimiert ist in diesen Pre-Playoffs zu sehen, was dem SC Bern zwischen September und März die Saison immer wieder verhagelt hat: die Unfähigkeit, Leistungen richtig einzuordnen. Ein paar Siege provozieren Überheblichkeit und Arroganz. Die dann unweigerlich folgenden Niederlagen führen nicht zu Selbsterkenntnis. Sondern zu Ausreden. Im Management, beim Trainer und logischerweise auch bei den Spielern.
Der SCB hatte in Kloten anfänglich alles im Griff. Die Entscheidung führt zu Beginn des Mitteldrittels ein Ellenbogencheck von Chris DiDomenico in den Rücken des braven, harmlosen Flurin Randegger herbei, der während der Qualifikation gerade mal zehn Zwei-Minuten-Strafen abgesessen hatte. Ein Check ohne jede Notwendigkeit. Kloten nützt den Ausschluss des Kanadiers in der 24. Minute zum 1:0 und zum 2:0. Von diesem Zeitpunkt an beschert der grosse SCB den Fans des Aufsteigers einen wunderbaren Abend. Die Berner lassen sich vorführen wie der Siegermuni in der Arena des Eidgenössischen Schwingfestes.
Nun mögen wir einwenden, dieser Entscheid der Schiedsrichter sei streng gewesen. Aber die Ursache für diese Strafe – nach Regelbuch dürfen es 5 Minuten sein – ist der verlorene Anstand: die Unfähigkeit von Chris DiDomenico, zu erkennen, wie weit er zu weit gehen darf. Aber auch die Unfähigkeit des Coaches, seinen besten Skorer zu disziplinieren.
Dazu eine polemische Anmerkung: Natürlich sind die Schiedsrichter neutral. Und doch: Wenn die Schiedsrichter den SCB-Topskorer so streng bestrafen, dann müssen sich der Coach, der Sportchef und der Manager intern fragen: Wie kann es sein, dass der SCB selbst in einer so wichtigen Partie gegen den Aufsteiger keinen «Titanen-Bonus» mehr hat? Ende der polemischen Anmerkung.
Kloten und Bern schenken sich im zweiten Pre-Playoff-Duell nichts. Trashtalk vom Feinsten zwischen Chris DiDomenico und Marc Marchon in der zweiten Drittelspause.#IchbinFan #Preplayoffs pic.twitter.com/gE4zTe9wrV
— MySports (@MySports_CH) March 9, 2023
Ob der SCB am Samstag mit einem Sieg gegen Kloten den Viertelfinal gegen Biel erreicht und anschliessend mindestens bis in den Halbfinal kommt, ist keine Frage des Talentes und der Taktik. Es ist nur eine Frage der Disziplinierung von Chris DiDomenico. Eine Frage der Führung also.
Aber es ist halt für den Coach nicht einfach, einen Spieler zu disziplinieren, dem erlaubt worden ist, während der entscheidenden Phase der Qualifikation den Vertrag vorzeitig aufzulösen, ausgerechnet mit Fribourg-Gottéron zu verhandeln und einen neuen Vertrag abzuschliessen.
Schon unser aller Gotthelf hat vor mehr als 150 Jahren vor solcher Meisterlosigkeit ausdrücklich gewarnt: «… auch müssen gar oft unter der Meisterlosigkeit eines Hausgenossen, eines Kindes oder einer Katze alle leiden und Verdruss ausstehen. Das macht nicht gutes Blut.» Wir können anfügen: Das macht nicht gutes Blut und eine Niederlage in Kloten.
P.S.: Die ganze Polemik dreht sich um einen SCB, der gut genug ist, um bis in den Final zu kommen.