Das Spiel ist aus. La Chaux-de-Fonds, der Titan, der Favorit, ist zum dritten Mal gebodigt (4:2). Wogen der Begeisterung branden durch die Arena. Schliesslich kommt auch noch Trainer Christian Wohlwend aus dem Fuchsbau der Kabine heraus aufs Eis und orchestriert vor der Fankurve die Welle. Dabei ist gar nichts gewonnen: Olten führt im Viertelfinal gegen die Neuenburger 3:1. Noch ist der 4. Sieg nicht unter Dach und Fach.
Ganz oben auf der Tribüne steht ein langjähriger, besonnener und kluger Anhänger des Klubs. Er schüttelt ob dem Spektakel den Kopf und sagt mit heiterer Nachdenklichkeit: «Wir Oltner sind im Eishockey manisch-depressiv geworden. Wenn wir verlieren, sind wir zu Tode betrübt und wenn wir gewinnen, kennt unsere Begeisterung keine Grenzen.»
Ja, so ist es. Es ist noch gar nicht so lange her, da stand am genau gleichen Platz oben auf der Tribüne Präsident Marc Thommen und sah in depressiver Stimmung nach einer Niederlage schwarz. Er sagte in allem Ernst, nun sei es Zeit, über einen freiwilligen Abstieg nachzudenken. So gehe es nicht weiter.
Von der Depression eines freiwilligen Abstieges zur schier grenzenlosen Euphorie nach einem 4:2 gegen La Chaux-de-Fonds: Diese extremen Stimmungswechsel dürfen durchaus als «manisch-depressiv» bezeichnet werden.
Extrem sind die Stimmungsschwankungen diese Saison: Am 6. November sind die Oltner zu Tode betrübt und feuern Trainer und Sportchef Gary Sheehan. Sie sind auf den 8. Platz abgerutscht und so deprimiert, dass sie einen demütigenden Deal eingehen: Sie ziehen das Aufstiegsgesuch zurück, das problemlos bewilligt worden wäre. Weil Ajoie nur unter dieser Voraussetzung seinen bereits des Amtes enthobenen Trainer Christian Wohlwend freigibt. Dabei gilt doch für Olten: Wir wollen aufsteigen, also sind wir.
Hinter den sieben Jurabergen sitzen eben die schlausten Bürogeneräle unseres Hockeys: Mit diesem Schachzug sind sie mit Olten einen gefährlichen Gegner in einer allfälligen Liga-Qualifikation los.
Nun sind sie drauf und dran, mit La Chaux-de-Fonds einen zweiten aufstiegsberechtigen Klub auszubremsen: Sie haben Tim Minder, Bastien Pouilly und Kyen Sopa nach OIten geschickt. Die drei waren zwar in Ajoie bloss Hinterbänkler. Bei Olten aber sind sie valable Verstärkungen. Die beiden Verteidiger Bastien Pouilly und Tim Minder stabilisieren die Defensive mit fast 20 Minuten Eiszeit. Gelingt Olten die Sensation gegen La Chaux-de-Fonds, bleibt mit Visp nur noch ein aufstiegsberechtigtes Team. Im Falle eines Falles traut sich Ajoie zu, Visp in einer Liga-Qualifikation zu besiegen.
Christian Wohlwend ist der perfekte Trainer für die «manisch-depressiven» Oltner. Wahrscheinlich kann kein anderer Trainer so gut Emotionen entfachen. Er tut es in einer direkten, natürlichen Art und Weise – Emotionen sind ein Teil seiner Persönlichkeit. Deshalb funktioniert es. Längst hat er gelernt, seine Emotionen zu «managen» und nicht mehr zu übertreiben.
Die Oltner haben La Chaux-de-Fonds bisher nicht mit Talent oder Taktik überrascht. Ja, die Neuenburger sind hockeytheoretisch eigentlich besser. Aber alle spielerischen Vorteile sind am Dienstagabend in der unerhörten Intensität des Oltner Spiels «verdampft». So raues und doch diszipliniertes Rumpelhockey ist nicht oft zu sehen. Das Spiel wird in unzählige Zweikämpfe aufgelöst. Oft ringen beide Teams bei ihren Offensiv-Bemühungen um ein paar Meter, wie ein Team im American Football. Uriges, wahres Hockey in einer eiskalten Arena. Hockey-Romantik pur.
Zu dieser Hockey-Romantik passt die Nähe der Spieler zu den Fans. Sie mischen sich schon kurz nach dem Spiel hinter der Haupttribüne für einen kurzen Schwatz unter die Fans. Und keiner ist so populär wie der bärtige Riese Eliot Antonietti, ein Verteidiger, fast zwei Meter gross und über 100 Kilo schwer. Schlau, standfest, erstaunlich flink und diszipliniert (nur 16 Strafminuten in 46 Spielen). Einer der charismatischsten Spieler unseres Hockeys. Schier grenzenlos war der Jubel, als er von der blauen Linie aus den Puck zum 1:1 mehr ins Netz geschlenzt als geschossen hatte. Sein zweiter Saisontreffer.
Zu den extremen Gefühlsschwankungen der Oltner Hockeykultur passt der Saisonverlauf des wichtigsten Einzelspielers: Torhüter Lucas Rötheli (22). Er ist der Dieb, der dem fast permanent überlegenen La Chaux-de-Fonds (38:19 Torschüsse!) den Sieg mit einer Fangquote von 94,87 Prozent stiehlt. Auf der Gegenseite ist Viktor Östlund, ein «Lottergoalie», der bloss 83,33 Prozent der Pucks pariert.
Dabei hätten 99 von 100 Experten vor diesem Viertelfinal gesagt, Olten habe auch deshalb keine Chance, weil Viktor Östlund bei weitem der bessere Goalie sei. Und nun ist es genau umgekehrt. Allein schon die Statistik aus diesem Viertelfinal sagt alles: Lucas Rötheli hat 95,38 Prozent der Pucks abgewehrt und Victor Östlund klägliche 86,92 Prozent. Nach dem Spiel bekommt Lucas Rötheli die Auszeichnung für den besten Einzelspieler. Sein Grossvater übergibt ihm den Preis. Auf der Tribüne sitzt sein Vater André Rötheli, einst Meister mit Zug, Bern und Lugano. Mehr Hockey-Romantik geht nicht.
Für Christian Wohlwend ist die wundersame Steigerung seines letzten Mannes beinahe unerklärlich. «Der Schlüsselmoment war unser Sieg in Basel, den wir dem Goalie verdankten.» Die Oltner gewannen am 31. Januar bei 22:43 Torschüssen dank Lucas Rötheli (95,35 Prozent Fangquote). Zuvor war er bei der Verlängerungs-Heimniederlage gegen Visp einer der Hauptschuldigen gewesen (88,37 Prozent Abwehrquote). «Dieser Sieg in Basel hat seinem Selbstvertrauen unheimlich gutgetan», sagt Christian Wohlwend.
Olten ist und bleibt Olten. Noch fehlt ein Sieg für den Halbfinal gegen Basel. Aber in der Euphorie scheint alles möglich. Was, wenn die Oltner ausgerechnet jetzt erstmals seit dem Abstieg von 1994 die Meisterschaft der zweithöchsten Liga gewinnen sollten? Endlich, endlich, nach 31 Jahren Hoffen, Bangen und Plangen, eine Chance zum Wiederaufstieg, die wegen des zurückgezogenen Aufstiegsgesuches nicht wahrgenommen werden kann? Es wäre eine der verrücktesten Geschichten unseres Hockeys.
So ein Drama würde zu Olten passen. Olten, die manisch-depressive, die verkannte Hockey-Stadt. Schon die grosse, 1939 verstorbene Schriftstellerin Maria Waser ahnte etwas von der ganz besonderen Seele dieser Stadt, die sich im Hockey auslebt. Sie war weit in der Welt herumgekommen und nach einem Besuch in Olten reimte sie:
Ja, wahrlich, der EHC Olten, der von der restlichen Hockeyschweiz immer wieder Verkannte, ist preisend zu loben. Bis zur nächsten Depression.
(Spass beiseite, das ist das Ergebnis der Alibidurchlässigkeit zwischen NLA und NLB. Aber die Liga wird, leider, weiter an ihrem faulen Kompromiss festhalten.)