
Sag das doch deinen Freunden!
Ambris Trainer Hans Kossmann fasste dieses Drama, dieses Hockey-Wunder nüchtern in einem Satz zusammen. «Ein Punkt ist okay.»
Wahrlich, ein Punkt ist okay. Es ist einer der glücklichsten Punktgewinne Ambris in diesem Jahrhundert. Und das in einem Schicksalsspiel. Es ist ein Punktgewinn, der vielleicht am Ende der Saison über die Playoffteilnahme entscheidet.
Was ist passiert? Nun, die Statistik lügt doch. Der SC Bern hat Ambri in allen Bereichen dominiert. Hans Kossmann sagte sogar, der SCB sei «gekommen wie die Feuerwehr». Mehr Torschüsse (offiziell 51:18!). Mehr Bullys und Zweikämpfe gewonnen. Mehr Checks. Mehr klare Torchancen. Bei allem, was der Statistiker zu zählen vermag, hat der SCB klar dominiert.
Aber am Ende gewinnen die Berner doch «nur» 4:3 nach Verlängerung. Sie beenden zwar die längste Niederlagenserie der Vereinsgeschichte (7 Pleiten). Aber sie verlieren einen Punkt.
Wir könnten nun eine kluge Analyse über dieses Drama verfassen. Aber die Wahrheit ist nur ein einziges Wort: Lottergoalie. Diesen Punkt hat Torhüter Jakub Stepanek auf dem Gewissen. Er sieht schon beim 0:1 und 1:2 nicht wie ein Hexer aus. Das 3:3 aber muss er einfach halten. Punkt. Fertig. Seine Lotter-Fangquote: 83,33 Prozent. Und bei allen Einsätzen sind es 89,97 Prozent. Zu wenig für einen Goalie, der eine Ausländerlizenz braucht.
Die Berner haben in Ambri alles richtig gemacht. Nehmen wir einmal an, der SCB hätte nach der Niederlage in Biel am letzten Sonntag (3:4 n.V) Trainer Lars Leuenberger gefeuert. So wie es vom Volk gefordert worden ist. Dann würden wir jetzt eine Geschichte über die segensreiche Wirkung einer Trainerentlassung schreiben und den neuen Mann an der Bande als Wunderheiler preisen.
Aber der SCB hat den Trainer nicht entlassen. Und so ist nun der Moment gekommen, den heftig kritisierten SCB-Nottrainer auch einmal zu rühmen. Trotz des Punktverlustes. Er hat diese Woche alles richtig gemacht. Der gestrige Verlängerungs-Sieg in Ambri ist auch sein Sieg. Er hatte Topskorer Cory Conacher am Dienstag in Lausanne für eine Denkpause auf die Tribune geschickt. In dieser Partie resultierte zwar noch eine 4:5 Niederlage nach Penaltys. Aber es war ein Atemholen für ein grosses Comeback in Ambri.
Der Kanadier traf erstmals seit dem 23. Dezember (6:5 n.V. gegen die ZSC Lions) wieder ins Netz. Sein 2:2 (33.) war ein Stich in Ambris Herz. Er war so zielstrebig auf Torhüter Sandro Zurkirchen losgegangen, dass er für den Zusammenstoss NACH erzieltem Tor auf die Strafbank wanderte. Dieser Ausschluss bescherte Ambri das scheinbare Ende: Tristan Scherwey buchte in Unterzahl das 3:2. In 99 von 100 Partien wäre dies die Entscheidung gewesen.
Der neutrale Beobachter wunderte sich gestern wie es sein kann, dass dieser SCB nicht in der Spitzengruppe mitmischt. Verunsicherung? Keine Spur. Vielmehr unerschütterliches Selbstvertrauen. Selbst Ambris zweimalige Führung (1:0 und 2:1) ging an den Bernern spurlos vorüber. Sie kontrollierten die Partie. Sie spielten taktisch klug und clever. Sie spielten defensiv nahezu fehlerlos. Sie lösten die Angriffe zügig und präzis aus.
Wenn es einem Trainer gelingt, seine Jungs nach sieben Niederlagen in Serie zusammenzuhalten und die Kultur des Selbstvertrauens so zu pflegen, dass sie aufzutreten, als sei diese Saison ein Leben auf der Pony-Ranch gewesen – ja, dann hat er eben alles richtig gemacht. Und ganz nebenbei: Die mit kräftigem Türenschletzen garnierte Kabinenpredigt von SCB-General Marc Lüthi am Sonntag nach dem Match in Biel hat geholfen. Gibt das Vermarktungs-Genie bald ein «Türenschletz-Seminar» für Führungkräfte?
Aber dann fällt dieses 3:3. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Gegen Jakub Stepanek, den Lottergoalie. Dave King, der grosse kanadische Hockeylehrer, pflegt seine legendären Taktikkurse mit einem Satz zu beenden: «Wenn Sie keinen guten Torhüter haben, dann vergessen Sie bitte wieder alles, was Sie in den letzten Stunden gelernt haben.»
Wer Ambri gegen Bern gesehen hat, kann die tiefe Wahrheit in diesem Satz verstehen. Und ist doch wieder verwirrt: Ambri hatte mit Sandro Zurkirchen den klar besseren Goalie – und verlor in der Verlängerung trotzdem.
Heute spielt Zug in Bern. Die Zuger haben mit Tobias Stephan den besseren Torhüter. Aber wenn der SCB noch einmal alles richtig macht wie in Ambri, dann reicht das womöglich nicht.
Oder war der SCB nur so überzeugend, weil Ambri am Ende seiner Kräfte ist? Droht Ambri auf der Zielgeraden der Stillstand mit leeren Energie-Tanks? Fehlen am Ende doch die Punkte, die im Herbst verschenkt worden sind bevor Hans Kossmann kam?
So oder so – die SCB-Krise ist eine der erstaunlichsten der Neuzeit. Die Mannschaft zeigt keinerlei Auflösungserscheinungen. Sie erleidet zwar hin und wieder Systemzusammenbrüche. Aber sie fällt nie auseinander, Leidenschaft und Kampfkraft sind ungebrochen. Noch nie haben die Berner unter Lars Leuenberger in einem Spiel resigniert. Manchmal taumeln sie taktisch orientierungslos durch ein Spiel (wie zuletzt in Biel oder Lausanne) und hin und wieder marschieren sie zielstrebig, taktisch klar und wahr zu Punkten wie soeben in Ambri. So ratlos war ein um Objektivität bemühter Chronist noch selten bei der Beurteilung einer Mannschaft. Titelanwärter oder Abstiegskandidat? Wir haben die Antwort immer noch nicht. Schliesslich sagte schon der griechische Philosoph Protagoras von jeder Sache geben es zwei einander widersprechende Auffassungen.
Was, wenn diese Mannschaft doch noch die Playoffs erreicht? Die Vorstellung, dass der SCB dann unbelastet mit ein bisschen Glück mindestens ins Halbfinale kommt, ist überaus reizvoll. Denn dann müsste Marc Lüthi eigentlich den Vertrag mit Lars Leuenberger, dem Wundermann, verlängern.