Entsteht ein neues Lugano? Diese Frage ist seit dem letzten Titelgewinn von 2006 schon mindestens zehnmal diskutiert worden. Bisher sind alle Versuche gescheitert, ein stabiles neues «Grande Lugano» aufzubauen. Das Zwischenhoch mit den verlorenen Finals von 2016 und 2018 ist durch ein stabiles Tiefdruckgebiet abgelöst worden: Seit 2018 ist Lugano nicht mehr über die Viertelfinals hinausgekommen und in der Qualifikation reichte es zuletzt bloss zu den Rängen 9 und 10. Die populärste aller Ausreden im Sport gilt nicht: Zu wenig Geld. Lugano ist eines der reichsten Hockey-Unternehmen ausserhalb der NHL.
Eine Rückkehr zur Bescheidenheit, die Förderung von eigenen Talenten und der Aufbau einer echten Leistungs-Kultur sind seit 2006 schon oft verkündet, aber nie dauerhaft gelebt worden. Nun gibt es erste Anzeichen, dass der 8. Oktober 2022 für Luganos Geschichte eine ähnliche Wichtigkeit als Tag der Revolution bekommen könnte wie der 25. Oktober 1917 für Russland: Am 8. Oktober 2022 wird der grosse Chris McSorley (61) des Amtes enthoben und durch Luca Gianinazzi (30) ersetzt.
Es ist eine Hockey-Revolution unter Palmen: Zum ersten Mal führt seither mit Luca Gianinazzi kein Trainer mit berühmtem Namen das Team – sondern einer aus den eigenen Reihen ohne Erfahrung im «Big Business». Ein kluger junger Mann, der jüngste Trainer der Liga, mit Visionen, Überzeugungskraft und einem Horizont weit über den San Salvatore hinaus. Er mahnt ein wenig – aber nur ein wenig – an Patrick Fischer und Luca Cereda.
Am letzten Samstag haben wir einen der ruhmreichsten Tage des Tessiner Hockeys seit 2006 erlebt. Ambri besiegt daheim die ZSC Lions (4:3 n.V) und Lugano bodigt 24 Stunden nach einem 6:2 über den Titanen SC Bern auswärts Langnau 8:0.
In der 54. Minute fällt das 8:0. Eigentlich ein völlig bedeutungsloser Treffer. Aber der Torschütze freut sich wie einer, der in der Verlängerung zum Siegestor getroffen hat. Er wird von seinen Mitspielern gefeiert. Roberts Cjunskis (20), ein Lette mit Schweizer Lizenz und seit 2016 in Lugano, hat in seinem zweiten Spiel getroffen. Die Förderung junger Talente wird tatsächlich gelebt.
Die Wende mit den Siegen gegen Bern und in Langnau kommt rechtzeitig: Nach durchzogenem Saisonstart steht Lugano erst auf dem 9. Rang. Lugano kann auf Dauer so wenig in der unteren Tabellenhälfte darben wie die ZSC Lions, der SCB oder Zug.
Bei diesen zwei Siegen und einem soeben offiziell bestätigten teuren Transfer ist in Umrissen die Strategie von Sportchef Hnat Domenichelli zu erkennen. Er versucht, ein modernes Lauf- und Spektakelteam auf der Basis einer starken blauen Linie aufzubauen. Er kauft nicht nur ein. Er hat eine Vision und weiss, dass im modernen Hockey laufstarke, kreative Verteidiger eine Schlüsselrolle spielen.
Dabei helfen ihm die vollen Geldspeicher seiner klugen Präsidentin Vicky Mantegazza: David Aebischer (23) hat von allen jungen Schweizer Verteidigern wahrscheinlich das grösste Spektakel-Potenzial, und er dürfte noch besser werden. In zwölf Partien hat er diese Saison für die Lakers schon acht Punkte gebucht. Wenn wir Gewährsleuten Glauben schenken, dann hat Hnat Domenichelli David Aebischer einen Dreijahresvertrag für rund 1,5 Millionen offeriert, und als die Konkurrenz nachlegte, mit fünf Jahren und knapp drei Millionen gekontert. Lakers-Sportchef Yanick Steinmann bestätigt jedenfalls, eine Verlängerung mit David Aebischer sei aus finanziellen Gründen völlig unmöglich gewesen. Inzwischen ist Zugs Nico Gross ganz zuoberst auf seiner Wunschliste. Und sonst gibt es ja noch erheblich günstigere Angebote auf dem Transferwühltisch (z. B. Luca Christen, Mika Henauer).
Nun wird David Aebischer also im nächsten Frühjahr mit einem Fünfjahresvertrag nach Lugano zügeln. Um ihn herum konstruiert der Sportchef das neue Lugano. So wie Nashville um Roman Josi eine Mannschaft aufgebaut, aber den Stanley Cup noch nicht geholt hat. Vielleicht wird David Aebischer Luganos Antwort auf Roman Josi. Vielleicht auch nicht. Noch wichtiger als die Verpflichtung der besten Talente aus der Deutschschweiz ist die Pflege einer Leistungskultur. Lugano hat jahrelang darunter gelitten, dass grosse Namen, die Nähe zur Besitzerfamilie Mantegazza und Verdienste aus der Vergangenheit wichtiger waren als die Leistungsfähigkeit in der Gegenwart. Dass die Dynamik durch inneren Konkurrenzkampf zu oft durch die Kunst der Intrige ersetzt worden ist.
Auch in diesem Bereich waren bei den Siegen gegen den SCB und Langnau Zeichen einer neuen Zeit zu erkennen: Mark Arcobello, als Captain letzte Saison massgeblich am Sturz von Chris McSorley beteiligt, ordnet sich ins Team ein – obwohl er als Captain abgesetzt worden ist. Nach einer miserablen letzten Saison (nur noch 27 Punkte) ist er wieder ein offensiver Leitwolf und hat schon elf Punkte auf dem Konto. Vom Machiavelli zum treuen Johannes des Hockeys.
Und noch etwas fällt auf: Früher hätte Jeremi Gerber (23) einen Stammplatz gehabt. Allein schon, um die sportliche Führung nicht zu blamieren: Hnat Domenichelli hat den talentierten Powerflügel im Sommer 2022 in Bern eingekauft und den eigenen Talenten vor die Nase gesetzt. Nun aber zählt die Leistung. In bisher 55 Partien hat Jeremi Gerber bloss einen Treffer erzielt. Gegen den SCB sass er am Freitag auf der Tribüne, in Langnau hat er nicht einmal vier Minuten Eiszeit gesehen. Der Junior der Stunde ist Roberts Cjunskis. Hnat Domenichelli hat seinen Irrtum eingesehen und sagt, er sehe es nicht gerne, wenn junge Spieler auf der Tribüne sitzen. Falls erwünscht und erforderlich, würde er Jeremi Gerber zu einem anderen Team ausleihen. Der Vertrag läuft Ende Saison sowieso aus.
Erkennen wir also die ersten Umrisse eines neuen Lugano am Horizont? Oder ist alles bloss eine Fata Morgana? Bei einer Fata Morgana glaubt der durstige Reisende in der Wüste am Horizont eine blühende Oase mit Palmenhainen zu sehen. Doch schliesslich löst sich alles in heisse Luft auf: Es war nur ein Trugbild. Basierend auf einer Luftspiegelung.
Eines stimmt zuversichtlich: Zumindest die Palmen sind - anders als bei einer Fata Morgana – in Lugano echt.
Wie kurzlebig sind doch die Analysen im Icehockey-Herbst!
Kantersiege back to back gegen nationale grössen wie scb und langnau sind gar nicht anders erklärbar als mit einer umsichtigen kaderplanung, die nicht auf wahlloses zusammenkaufen von spielern beruht, und einer ausgeprägten leistungsbereitschaft und -kultur.
(Obacht, der kommentar könnte eine fata morgana sein)