Der kanadische Hockey-Romantiker Guillaume Asselin versenkt den Puck in der Verlängerung zum 3:2 und beschert den Oltnern den glücklichsten, emotionalsten, schönsten Moment der letzten 31 Jahre. Der Titan La Chaux-de-Fonds ist gestürzt. Mit Goethes Doktor Faust dürfen wir sagen: «Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!»
Nun mögen wir einwenden: Nur nicht übertreiben! Der EHC Olten hat seiner Stadt schon viele Dramen beschert. Das ist richtig. Aber seit dem Abstieg aus der höchsten Liga (1994) noch keines wie dieses. Es ist die erste Sensation.
Seit dem Abstieg von 1994 (nach einem Penalty-Drama gegen Biel) endete in Olten bisher jede Saison mit einer Enttäuschung. Weil der Wiederaufstieg nicht gelingt. Im Selbstverständnis sind die Oltner seit 1994 Titanen der zweithöchsten Liga. Auch in sportlich und wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Am Ende jeder Saison wurmt es tief in der Seele: «Wir sind wieder nicht aufgestiegen…»
Das grösste sportliche Glück bleibt den Oltnern verwehrt: Nichts tut einer sportlichen Seele so wohl, wie ein Triumph über einen Titanen. David gegen Goliath. So ein Triumph kann den Oltnern nie gelingen. Sie sind ja Goliath. Sie rücken zwar mehrmals bis in den Final vor. Das wird letztlich erwartet. Das ist keine Erlösung. Eine Erlösung wäre nur der Aufstieg.
Aber nun war Olten gegen La Chaux-de-Fonds zum ersten Mal durch und durch, gefühlt und gelebt Aussenseiter, Underdog, David. Die Neuenburger wollten aufsteigen. Die Oltner nicht. Sie hatten sogar schmählich den Rückzug angetreten und das Aufstiegsgesuch zurückgezogen. Schon fast eine Kapitulation.
Die Statistik war klar und deutlich: La Chaux-de-Fonds (2.) hatte in der Qualifikation am meisten Tore erzielt (163). Olten (7.) nur 128. Der Favorit hatte lediglich 102 Gegentreffer zugelassen. Olten 138. 32 Punkte trennten die beiden Viertelfinalisten in der Tabelle. La Chaux-de-Fonds hatte das beste Powerplay der Liga und das zweitbeste Boxplay. Und mit Viktor Östlund den besten Torhüter der Liga. Wie wir es drehten und wendeten, abklopften und untersuchten: La Chaux-de-Fonds hatte keine Schwächen und auch in der Qualifikation gegen die Oltner alle vier Partien gewonnen.
Nur ein einziger traute der Sache nicht. Chris McSorley. Der Kanadier arbeitet heute an einem 80-Millionen-Stadionprojekt in Sierre und hat mit dem Aufbau eines aufstiegsfähigen Teams begonnen. Bei Servette war er einst jahrelang Cheftrainer und Louis Matte sein Assistent. Er kennt also den Coach von La Chaux-de-Fonds und sagte vor dem Viertelfinal: «Louis spielt nicht gern gegen die Oltner. Es könnte eine Überraschung geben…»
Wie kann es sein, dass der Goliath alle Spiele gegen den David klar dominierte und doch scheiterte? Das Torschussverhältnis lässt die Dramatik dieser sechs Partien erahnen.
Eine permanente Dominanz von 277:174 Torschüssen. Christian Wohlwend wundert sich, dass sein Gegenspieler Louis Matte keine taktischen Tricks versucht, sein Spiel durchgezogen und kaum darauf geachtet hat, was der Gegner macht. Ein Fehler? Nein. Wenn eine Mannschaft in allen Lagen – Gleichstand, Powerplay, Boxplay – seit Monaten funktioniert, dann wäre es fatal, in der entscheidenden Phase der Meisterschaft umzustellen, das Spiel nicht mehr zu bestimmen und auf das zu reagieren, was der gegnerische Coach macht. Louis Matte konnte gar nicht anders. Er war ein Gefangener einer erfolgreichen Mannschaft. Er konnte das Verhängnis nicht mehr stoppen.
Dieser Triumph ist der Ritterschlag für Trainer Christian Wohlwend. Nicht nur die Oltner finden in diesem Viertelfinal zu sich selbst. Auch Christian Wohlwend. Aus einem wilden wird ein grosser Trainer.
Eine Szene prägte bisher das Image von Christian Wohlwend. Im zweiten Halbfinalspiel mit Davos gegen Zug sorgt er im April 2022 für den Aufreger der Saison, der sich im Zeitalter der sozialen Medien schnellstmöglich verbreitete. Er wirft nach dem Siegestreffer der Zuger (2:1) 15 Sekunden vor Schluss drei Trinkflaschen aufs Eis.
Er macht damit seinem Ärger Luft über die Schiedsrichter und ihre Strafe gegen den Davoser Jesse Zgraggen, die zum entscheidenden Zuger Powerplay geführt hatte. Diese Szene ist der Anfang vom Ende seiner Amtszeit in Davos. Er wird noch vor Ende der darauffolgenden Saison in Davos gefeuert. Die Früchte seines Zornes sind bitter.
Fast drei Jahre später hätte er wieder Grund, sich über die Schiedsrichter zu ärgern. Olten kassiert am Sonntag vier Strafen, La Chaux-de-Fonds keine. Gross ist der Zorn über die Unparteiischen beim Publikum – und die Oltner hätten diese Partie verloren, wenn auch Christian Wohlwend zornig geworden wäre. Die einseitige Strafenverteilung hat ihre Logik: Mit Intensität und Härte gelingt es den Oltnern, die spielerische Überlegenheit ihres Gegners einzudämmen. Wer härter, intensiver spielt, riskiert mehr Strafen.
Die Oltner kassieren nur einen Treffer in Unterzahl. Das vermeintliche Unrecht lässt das Team noch enger zusammenrücken und Christian Wohlwend bleibt ruhig. Weder er noch seine Spieler lassen sich vom Spiel ablenken. Er wird hinterher sagen, er könne seine Emotionen besser kontrollieren und nennt einen Grund für seinen Reifeprozess: «Meine Frau hat mir sehr geholfen...» Aus Wut wird sozusagen Energie. Oder poetisch gesagt: Die süssen Früchte des Zornes.
Am Ende ist es ein Triumph der Leidenschaft, der kontrollierten Emotionen und der taktischen Schlauheit über Tempo, Technik und Talent. Es ist ein Triumph des Coachingteams um Christian Wohlwend. Und natürlich auch des besseren Goalies: Lucas Rötheli, lange ein hochtalentierter «Zappelphilippe», stoppte die Pucks so cool wie einst sein Vater André die meisterliche Offensive in Zug, Bern und Lugano dirigierte.
Noch nie haben die Oltner vom 7. Rang aus als «Underdog» einen Viertelfinal gewonnen. Es ist die erste Sensation seit dem Abstieg von 1994. 31 Jahre lang war die Reaktion auf einen gewonnenen Viertelfinal «Ja und? War doch zu erwarten!» Nun ist es wie die Versöhnung mit der Geschichte: «Wir haben den Viertelfinal gewonnen, also sind wir!» Eine Stadt, eine Mannschaft und ein Trainer haben zu sich selbst gefunden.
P.S. Nun folgen ab Freitag die Halbfinals Basel gegen Olten und Visp gegen Thurgau. Nach dem Scheitern von La Chaux-de-Fonds bleibt nur noch Visp als Aufstiegsanwärter. Gewinnt Visp die Swiss League nicht, entfällt die Liga-Qualifikation. Verliert Visp den Halbfinal, entfällt auch das Playout.