Aus Vorauslaufenden werden Verlierer, aus Geschlagenen werden Gewinner. Es kann schnell gehen im Biathlon. Die Faszination der Sportart, die Langlaufen und Schiessen kombiniert, ist gross. Das haben in den vergangenen zwölf Tagen über 85'000 Leute an der WM auf der Lenzerheide live miterlebt. Viele von ihnen, gerade ein grosser Teil des heimischen Publikums, zum ersten Mal.
Die Dramaturgie der Rennen ist beeindruckend. Weil es schnell geht, bis an der Spitze alles wieder durcheinandergewirbelt wird. Wie auch gestern in den Massenstartrennen, als Elvira Öberg und Endre Strömsheim dank eines starken vierten Schiessens am Ende die Schnellsten waren.
Überaus schnell ging es auch, bis die Schweiz zu einer Biathlon-WM kam. «Etwas, für das man normalerweise 20 bis 30 Jahre braucht, nämlich ein regelmässiger Weltcup-Veranstalter zu sein und überdies eine WM durchzuführen, haben wir in zehn Jahren geschafft», sagte Walter Reusser, Co-CEO von Swiss Ski, am Freitag, als klar wurde, dass die Lenzerheide auch künftig im Weltcup-Kalender bleibt.
Tatsächlich ist es keine Kleinigkeit, einen Fuss in die Tür zu bekommen, in einem europaweit sehr etablierten Wintersport, der vom potenten internationalen Biathlonverband IBU professionell und zentral vermarktet wird. Bewerber gibt es viele, Weltcup-Termine nur wenige.
Es war das finanzielle Engagement von Unternehmer Michael Hartweg, gepaart mit dem Willen von Swiss Ski, die Biathlon-Strukturen auf Vordermann zu bringen, die Lantsch/Lenz schrittweise zum WM-Ort machten. 2020 trug man die Junioren-WM aus, später kam die EM dazu, 2023 ein Weltcup und nun die Elite-WM. Glück half bei der Bewerbung mit. Oslo reichte die Unterlagen zu spät ein, Weissrussland war aus politischen Gründen aus den Traktanden gefallen.
Wer sich in den vergangenen Tagen in der Biathlon-Arena umhörte, merkte: Trotz hohem Tempo ist es den Organisatoren um CEO Jürg Capol geglückt, als Biathlon-Neulinge einen guten Job zu machen. Die Mischung von Wettkampf und Volksfest funktionierte. Und wenn Capol von den Problemchen redet, die man in den knapp zwei Wochen hatte, tönt das harmlos bis positiv. Das Fandorf musste am Morgen schon früher geöffnet werden, weil der Andrang schon da gross war. Und die WC-Kapazitäten mussten erhöht werden.
Dabei war vor zwei Jahren, als Capol den CEO-Posten übernahm, vieles offen: Es fehlte der Platz rund um die Anlage, es fehlten Hotelbetten, dazu kam die Herausforderung mit dem Verkehr während der Hochsaison. Die IBU schaute das alles kritisch an. Man fand Lösungen, sogar die grösste Herausforderung habe man gemeistert: «Mit einem hiesigen Nischensport ein Sportfest zu veranstalten.» Fans aus 25 Nationen waren da, viele Deutsche, Franzosen und Skandinavier, rund 60 Prozent der 85'000 Besucherinnen und Besucher aber kamen aus der Schweiz.
Die Begeisterung für eine Sportart in einem Land hängt naturgemäss mit den sportlichen Leistungen der eigenen Athleten zusammen. «Die WM kommt eigentlich zu früh», war diesbezüglich aus dem Swiss-Ski-Team oft zu hören. Die Schweiz hat sich den besten Nationen angenähert, aber noch nicht mehr. Es fehlte wenig zur Medaille, wie die Ränge 4, 4, 5, 5, 6 und 7 zeigen. An den Massenstartrennen zum Abschluss am Sonntag lieferte Aita Gasparin mit Platz elf das beste Schweizer Resultat.
Oft spielten die Nerven verrückt. Angefangen bei Amy Baserga im Sprint bis hin zu Lena Häcki-Gross im Einzel. So sagte Elisa Gasparin, die Ende Saison zurücktreten wird: «Die Drucksituation vor eigenem Publikum kann man nicht üben. Doch das wird sich ändern. Die Sportart ist in der Schweiz noch jung.» Und immerhin: So viele Top-Ten-Ränge an einer WM hat der Schweizer Biathlon zuvor nie gesehen.
Trotz verpasster Medaillen: Niklas Hartweg und Co. ist der Vorstoss nach ganz vorne zuzutrauen. Doch die Breite fehlt. Auf zweithöchster Stufe, dem IBU-Cup, spielt die Schweiz vorerst eine untergeordnete Rolle.
Um diese Breite zu erreichen, soll die WM eben auch helfen, sagt Capol. Als designierter Nordisch-Direktor will er mit klarem Konzept die nächste Biathlon-Generation heranwachsen lassen – mit Vorbild Frankreich. «Wir müssen die Basis der Pyramide legen, Skiklubs und auch Schulen fürs Biathlon begeistern, Biathlon und Langlauf stärker koordinieren.» Das braucht Geduld, bis vor kurzem gab es noch keine J&S-Leiterausbildungen fürs Biathlon. Die derzeitigen Leistungsträger bezeichnet Capol weitgehend als «Zufallsprodukte».
Capol spricht von einem Commitment von Swiss Ski, wonach nach dem Alpin- der Biathlonsport komme. Man wird aber die Relationen zu wahren wissen. Der Hundschopf ist seit bald hundert Jahren ein Begriff in der Sportschweiz, die Minsch-Kante seit 60 Jahren. Der «Hartweg-Hill» – wo sich an der WM Hunderte Fans am Rand der Loipe versammelten – aber erst seit zwölf Tagen.
Und vielleicht war die Aussage von Amy Baserga nach ihrem Staffelauftritt am Samstag vielsagender, als sie es vielleicht beabsichtigte: «Wir haben der Schweiz das Biathlon-Fieber gezeigt.» Gezeigt, ja. Ausgebrochen ist es noch nicht. Doch man kennt es jetzt. Alles andere braucht, eben: Geduld.