Die zwei ersten Finalpartien bescherten uns die Fortsetzung alter Wahrheiten. Zum Beispiel: Die ZSC Lions kassieren nie Tore in Überzahl. Das ZSC-Powerplay ist «tödlich». Lausannes Goalie Kevin Pasche ist ein paar Zentimeter zu klein. Denis Malgin spielt perfekt. Die Ruhe der ZSC Lions ist unerschütterlich.
Die Zürcher bestätigten in den zwei ersten Partien ihre Favoritenrolle. Sie gewannen in Lausanne zum Auftakt 3:0 und anschliessend im zweiten Spiel auf eigenem Eis in der Verlängerung 3:2. Logische Resultate. Berechenbares Eishockey.
Nun sind die Dämme gebrochen. Lausanne nimmt im dritten Spiel endlich Fahrt auf. Ist von allem Anfang an mutig, robust und auch leichtfüssig, kreativ und in allen drei Zonen aktiv. Gleich schnell beim Laufen und beim Denken wie die Zürcher.
So wird Eishockey endlich das, was seine Faszination ausmacht: ein unberechenbares Spiel auf rutschiger Unterlage. Erwachsene Männer, die bezahlt werden, um zu spielen und sich dabei hin und wieder verhalten wie Kinder. Das Ende der Wahrheiten, wie wir sie aus der Qualifikation und den Statistiken kannten.
Die ZSC Lions machen erst einmal alles richtig. Sie lassen zwar in den ersten 40 Minuten ungewöhnlich viele gegnerische Abschlüsse zu: 29. In der ersten Partie in Lausanne waren es lediglich 16 und in der zweiten gar nur 12 gewesen. Und da ist noch etwas: Ein Fehlpass von Lehtonen erlaubt Lausanne das 2:1 in Unterzahl. Der erste Gegentreffer, den die Zürcher in dieser Saison während eines Powerplays einstecken müssen.
Gerät das Spiel der ZSC Lions aus den Fugen? Der Optimist sieht noch keinen Grund zu tiefer Besorgnis und tatsächlich gelingt ja bereits nach 1:37 Minuten im dritten Drittel der Ausgleich zum 2:2. Und hat nicht Cheftrainer Marco Bayer schlau disponiert? So ist es.
Er beordert Jesper Frödén auf die Flügelposition neben Sven Andrighetto und Denis Malgin. Der Schachzug zinst mit dem Treffer von Denis Malgin zum 1:1 (35:32). Gleich alle im neu formierten Trio haben ihren Stock im Spiel. Eishockey ist eben doch berechenbar. Und überhaupt: Drei Stangentreffer zeigen, dass die Zürcher eigentlich besser sind.
Aber der Pessimist hört das leise Donnergrollen des heraufziehenden Unterganges.
Mehr und mehr tritt der Spielfluss über die taktischen Ufer, und im schnellen Hin und Her gewinnt Lausanne die Oberhand. Immer mutiger, aufgestachelt vom Publikum und im Bewusstsein, dass nichts mehr zu verlieren und alles zu gewinnen ist.
Es wird am Ende ein Würfelspiel der Hockeygötter. Glück spielt auch eine Rolle. Und ja, es mag sogar sein, dass Lausanne dabei ein wenig begünstigt worden ist. Aber unverdientes Glück war es nicht.
Nach diesem dritten Spiel, nach diesem ersten Sieg für Lausanne gibt es eine entscheidende Frage: Verlieren die ZSC Lions – eigentlich ganz entgegen ihrem Naturell – die Nerven?
In der Schlussphase kommt nämlich – wie es beim Spielen halt so ist – das Kind in den Männern zum Vorschein. Sogar bei einem, der sich schon in über 400 NHL-Partien bewährt hat, mit den ZSC Lions bereits Meister und Sieger der Champions League geworden und mit 34 Jahren eigentlich zum unerschütterlichen Mannsbild gereift ist: Derek Grant befördert den Puck in Baseball-Manier ins Publikum, die Schiedsrichter entscheiden auf Spielverzögerung.
Da Nicolas Baechler bereits auf dem Sündenbänklein sitzt, kommt Lausanne nun zu einem Powerplay mit fünf gegen drei. Es steht 3:2 für Lausanne. Es wird 2:10 Minuten vor dem Ende nichts mehr mit der Aufholjagd.
Eine Mischung aus Zorn, Frustration, Ärger und Hilflosigkeit übermannt Derek Grant und entzündet seinen Furor (= heftige Emotion). Er zertrümmert den Stock, schlägt mit der Faust ins Plexiglas und wird des Eisfeldes ganz verwiesen. Schnaubend verschwindet der Kanadier in die Kabine (nach 57:50 Minuten). Vielleicht hat ein Poet einst auch einen austickenden Hockeyspieler gesehen, als er reimte:
In den letzten 130 Sekunden sammeln die ZSC Lions durch Derek Grant, Dean Kukan und Sven Andrighetto sage und schreibe 72 Strafminuten für unsportliches Verhalten. Drei Titanen haben ihre Emotionen nicht mehr unter Kontrolle.
Während den 52 Qualifikationspartien zwischen September und März hatten sie es gemeinsam bloss auf 54 Strafminuten gebracht. Die ZSC Lions sind also soeben in Lausanne zum ersten Mal in dieser Saison mit Karacho untergegangen.
Sind die Zürcher also schlechte Verlierer? Der Puritaner sagt: Ja, so geht das natürlich nicht. Der Hockeyliebhaber hingegen sieht in diesem emotionalen «Freispiel» eben das, was die Playoffs – die Fortsetzung des Eishockeys mit anderen Mitteln – eben auch ausmacht: Emotionen, Irrungen und Wirrungen. Das Ende aller Wahrheiten der vorangegangenen Spiele.
Ist diese erste Niederlage die Wende? Sie ist es, wenn sich die Zürcher nicht beruhigen oder sich dazu verleiten lassen, den Unparteiischen eine Mitschuld am Untergang zu geben.
Noch ist die Ausgangslage eine vielversprechende: Der Sieg im ersten Spiel in Lausanne (mindestens ein Auswärtssieg ist für den Titelgewinn unerlässlich) kann sich nach wie vor als entscheidend erweisen. Aber eine Heimniederlage können sich die ZSC Lions nicht erlauben.
Eigentlich ist es ganz einfach: Wenn die Zürcher die Emotionen einhegen, die taktische Ordnung wieder herstellen und sich auf ihr überlegenes Talent und ihre Ausgeglichenheit verlassen, dann werden sie am Ende die logischen Meister sein.
Wenn nicht, stehen wir vor einem der ganz grossen Finaldramen unserer Geschichte.
Sport braucht Emotionen. Spieler, Schiris und Coaches machen Fehler. Am Ende gleicht sich das aus.
Wir wollen doch nicht einfach ein braves Hockeyspiel ohne Emotionen sehen.
Ich freue mich auf jeden Fall auf Dienstag.