Schweizer kommen fast überall hin. Sogar in die NHL. Längst ist das Vorurteil revidiert, wonach Schweizer für die wichtigste Liga der Welt zu weich seien. Nur in einer Liga ist der Schweizer Pass nach wie vor ein Nachteil: in unserer National League. Zwar werden Ambri, Langnau, Lugano, Ajoie und Servette von Eidgenossen gecoacht. Aber ausländische Trainer dürfen sich mehr erlauben. Was bei ausländischen Trainern als leidenschaftliches Engagement, mithin also als Stärke und Qualität ausgelegt wird, kann einen Schweizer den Job kosten oder seiner Karriere schaden. Der Kanadier Marc Crawford, 62, und der Schweizer Christian Wohlwend, 45, sind dafür wunderbare Beispiele.
Marc Crawford ist ein hochdekorierter Bandengeneral aus der NHL. Stanley-Cup-Sieger. Zwischendurch auch Meister mit den ZSC Lions (2014) und seit Ende Dezember wieder in Zürich. Im Rahmen der Partie gegen Biel (2:3) hat er am 15. Februar den finnischen Weltklasse-Schiedsrichter Mikko Kaukokari als «Cocksucker» verunglimpft. Dafür ist er mit 3260 Franken gebüsst und für ein Spiel gesperrt worden.
Hat ihm diese verbale Entgleisung geschadet? Keineswegs. Gegen Servette kehrt er am 21. Februar an die Bande zurück. Nach dem Spiel (6:5) wird er noch einmal auf seine Schiri-Beschimpfung angesprochen. Oh, wie er bereut! Er spricht mit sanfter Stimme und wirkt harmlos wie der Rektor einer Klosterschule und man traut ihm nicht einmal zu, einen unfolgsamen Hund zurechtzuweisen. Hier ein paar Auszüge aus seinem brillanten Reuebekenntnis:
Marc Crawford zelebriert sein Mea culpa (Schuldbekenntnis) perfekt. Er hat in Nordamerika gelernt: Das Publikum liebt einen reuigen Sünder. Hat diese Episode Marc Crawford geschadet? Nicht im Mindesten. Nicht einmal in einer so hochprofessionellen Organisation wie es die ZSC Lions sind, wo viel Wert auf Aussenwahrnehmung gelegt wird. Der Ärger beim Management über eine bissige Video-Kritik auf blick.ch war mindestens so gross wie über den Fauxpas des Cheftrainers.
Eishockey ist eben auch so populär, weil die Kultur dieses Spiels eine raue, rustikale ist. Auch verbal. Kommt dazu, was niemals jemand öffentlich bestätigen wird: Unmutsäusserungen gegen Schiedsrichter kommen in der Kabine gut an. Marc Crawford wegen seines Gefühlsausbruchs entlassen, nicht mehr weiterbeschäftigen oder nicht engagieren? Lächerlich. Sollte der charismatische Kanadier bei seinem zweiten Gastspiel in Zürich scheitern, kann er mit Jobangeboten aus ganz Europa rechnen.
Die Schweizer Antwort auf Marc Crawford heisst Christian Wohlwend. Natürlich hat er keine so ruhmreiche Vergangenheit. Und doch Erstaunliches vollbracht: Er führt den HC Davos nach der Ära Del Curto zurück in die Spitzengruppe, und mit dem U20-Nationalteam erreicht er nach einem Sieg über Russland den WM-Halbfinal. Er ist ein Feuerkopf, wie Marc Crawford. Nach dem zweiten Halbfinal gegen Zug am 10. April 2022 wirft er aus Protest gegen die Schiedsrichter Trinkflaschen aufs Eis. Dem Siegestreffer 15 Sekunden vor dem Ende war eine hart gepfiffene Strafe gegen HCD-Verteidiger Jesse Zgraggen vorausgegangen. Der Gefühlsausbruch ist wahrlich verständlich. Christian Wohlwend wird von der Hockey-Justiz nicht ungerecht behandelt und ähnlich bestraft wie Marc Crawford. Zwar muss er keine Sperre absitzen. Aber mit 4400 Franken Busse tun.
Auch er bereut. Hätte er mit den gleichen Worten in deutscher Sprache den reuigen Sünder gespielt wie Marc Crawford, wäre er als Schauspieler und Heuchler geschmäht worden. Christian Wohlwend wegen seiner Unbeherrschtheit entlassen, nicht mehr weiterbeschäftigen oder nicht mehr engagieren? Ja. Hat diese Episode seiner Karriere geschadet? Ja. Er hat im Laufe dieser Saison seinen Job in Davos nicht wegen sportlicher Erfolglosigkeit verloren. In einer so hochprofessionellen Organisation, wie es der HC Davos ist, wo viel Wert auf Aussenwahrnehmung gelegt wird, ist sein Ausraster nicht gut angekommen und dürfte bei den Abwägungen «Vertrag verlängern oder vorzeitig auflösen» eine Rolle gespielt haben.
Nun ist Christian Wohlwend auf Jobsuche. Er sagt, er sei hoch motiviert. Aber er habe keine Angebote. Hiesse er Marc Crawford, dann würde er überall, wo ein Trainer wackelt, als Kandidat gehandelt. Sogar beim SC Bern. Wenn Marco Bayer neuer Trainer der GCK Lions werden sollte, wird der Job eines U20-Nationalcoaches wieder frei. Christian Wohlwend zurück zum Verband? Nein. Sein Agent hat sich erkundigt und bereits eine Absage bekommen. Christian Wohlwend ist halt Schweizer. Hätte er einen kanadischen Pass auf den Namen Chris Wellman, dann wäre er gerade wegen seiner Emotionalität begehrt und würde jetzt Jobangebote sortieren.
Wolwo hat den kanadischen Pass.