Der Oberaargau ist ein wunderliches Land im Herzen der Schweiz. Von hier aus sind in einer Autostunde fast fünf Millionen Menschen erreichbar. Hauptort ist Langenthal mit rund 16'000 Bewohnenden. Hier schlägt das Herz der Berner Wirtschaft. Von hier aus gelangen Waren und Wissen in alle vier Ecken der Welt. Und doch ist Langenthal ein Dorf geblieben. Das Seldwyla des 21. Jahrhunderts.
Seit 1946 wird in Langenthal offiziell Eishockey gespielt. Dafür ist eine Unterlage aus gefrorenem Wasser erforderlich. So ist oben am Waldrand im Schoren in der kältesten Ecke der Stadt eine Eisbahn angelegt worden. Später ist daraus eine Kunsteisbahn und schliesslich ein überdachtes Stadion geworden.
2002 steigt der SC Langenthal erneut in die zweithöchste Spielklasse auf. Es ist der Auftakt zu den ruhmreichsten Jahren mit den Meistertiteln von 2012, 2017 und 2019 und dem Aufbau einer der besten Nachwuchsorganisationen im Land. Sie hat sogar einen NHL-Erstrundendraft hervorgebracht. Es gibt nur ein Problem: das Stadion. Erbaut im letzten Jahrhundert, als Hockey noch nicht Big Business war. Schlimmer noch: Als Energie keine Rolle spielte.
Vor dem Schoren müssten sich eigentlich Klima-Aktivistinnen und -Aktivisten festkleben. Die Isolation ist ungenügend. Keine Produktion von erneuerbarer Energie. Eine Energieschleuder sondergleichen. In einem Wohngebiet am Waldrand gelegen. Viele Matchbesuchende müssen die Benzinkutschen im Wald abstellen. Und das in einer Stadt, deren Politikerinnen und Politiker sich bei passender Gelegenheit noch so gerne ein grünes Mäntelchen umhängen.
Weil sich in der Stadtpolitik die Sozialisten und die Kapitalisten seit Jahren gegenseitig blockieren, ist es unmöglich, ein neues Stadion zu bauen. Wird die Stadt von einem Präsidenten aus dem bürgerlichen Lager regiert, verhindern die Linken alle Projekte. Ist ein Sozialist an der Macht wie gerade Reto Müller von der SP, dann sorgen die Bürgerlichen dafür, dass ihm kein grosser Wurf gelingt. Im oberen Emmental und in der Leventina, den strukturschwächsten Regionen des Landes, sind neue Stadien entstanden. Im vergleichsweise reichen Oberaargau reicht es nicht einmal für eine sinnvolle Sanierung.
So kommt es, dass kein neues Stadion gebaut werden kann und der SC Langenthal am letzten Mittwoch den freiwilligen Abstieg aus der Swiss League per Ende Saison verkündet hat. Es ist die erste Kapitulation eines Proficlubs seit dem freiwilligen Abstieg von Arosa im Frühjahr 1986. Gestern Donnerstag folgte nun im Hotel Bären (dort, wo traditionell die Langenthaler Fastnacht eröffnet wird) eine Medienkonferenz, die an Kurzweil nicht mehr zu überbieten war.
Vorne am Tisch sitzen mit ernster Miene die Granden der Stadt: Hans-Christian Schneider aus der berühmten Unternehmer- und Bundesratsfamilie, einer der SCL-Hauptaktionäre. SCL-Präsident Gian Kämpf. Stadtpräsident Reto Müller und sein Vize Markus Gfeller mit Einsitz in der Stadion-AG. Zelebriert wird das Scheitern der lokalen Politik.
Kleinlaut wird zugegeben, dass mit dem SCL im Amateurhockey auch fürderhin Jahr für Jahr zusammengerechnet mehr als eine halbe Million in die Stadionruine verlocht wird. Das Steuergeld muss leider verschwendet werden. Denn die Stadt ist über eine Aktiengesellschaft dummerweise Eigentümerin dieses Stadions, das wie ein Fass ohne Boden Steuergelder verschlingt. Und ein Elefant steht im Raum, der zwar erwähnt wird. Aber um den herum alle einen verbalen Bogen machen wie einst Alberto Tomba um die Slalomstangen.
Der SC Langenthal hätte nicht an der Stadionfrage scheitern müssen. Das Scheitern der Langenthaler hat nur am Rande mit den Problemen der Swiss League zu tun. Es hätte eine Lösung gegeben. Und damit kommen wir zum Seldwyla des 21. Jahrhunderts.
Wer von Langenthal südwärts mit dem Elektro-, Diesel- oder Benzinautomobil ins Tal hinauffährt, kommt – wenn nicht gerade eine Baustellen-Ampel klemmt – bereits nach gut 20 Minuten in Huttwil an. Jede halbe Stunde fährt auch die Eisenbahn von Langenthal nach Huttwil. Wer vom Hallenstadion in Oerlikon in den neuen ZSC-Tempel in Altstetten gelangen will, braucht mehr Zeit, einerlei, ob mit dem Auto oder der Eisenbahn.
Etwas ausserhalb des 5000-Seelen-Städtchens Huttwil steht eine moderne Sportanlage mit Eisstadion. Alles ist vorhanden: Zwei Eisbahnen, mehrere Fussballfelder, genügend Parkplätze, Stadionbeiz, geräumige Garderoben, Kraftraum, eine Dreifachturnhalle plus Anschluss an den öffentlichen Verkehr. Klimatechnisch auf dem neusten Stand. Auf den Dächern werden im Jahr mit Sonnenenergie eine Million Kilowattstunden produziert. Hier ist die Heimat von Hockey Huttwil, einem Team der MyHockey League.
Das Problem: Die Anlage gehört einer Privatperson, einem erfolgreichen Unternehmer ausgerechnet aus Langenthal. Die öffentlichen Institutionen in Huttwil sperren sich mit Händen und Füssen dagegen, das jährlich anfallende Defizit von gut einer halben Million zu übernehmen, das nun mal beim Betrieb einer solchen Anlage unvermeidlich ist. Geld, das letztlich einem Langenthaler zugutekommt? Nein.
Mit einer einmaligen Investition von weniger als 10 Millionen könnte das Stadion sogar auf die Anforderungen der National League aufgepeppt werden. Der vernünftig denkende, moderne Mensch denkt: Perfekt! Der Oberaargauer Eissport zügelt nach Huttwil. Das Steuergeld wird nicht mehr sinnlos Jahr für Jahr in die Stadionruine Schoren verlocht. Es wird zum Betrieb und zum Erhalt der modernen Anlage in Huttwil verwendet. Hier ist ja bereits das Frauenteam der Langenthaler beheimatet. Hier können problemlos zwei Mannschaften ihre Basis haben: der SC Langenthal in der Swiss League und Hockey Huttwil in der MyHockey League. In enger Zusammenarbeit mit Langnau, Biel und dem SCB entsteht so das perfekte Ausbildungszentrum. Hier kann die Nachwuchsabteilung sogar noch ausgebaut werden.
Ja, so wäre es, wenn Verstand und Vernunft vor Eitelkeit kämen. Mag sein, dass im Zuge der Globalisierung die ganze Welt ein Dorf geworden ist. Aber im Oberaargau ist jedes Dorf eine eigene Welt. Hier ist jeder Bauernhof ein Fürstentum und jedes Dorf ein Königreich. Es gibt zwar ab und an Gemeindefusionen. Aber nur selten. Jede Zusammenlegung von Käsereigenossenschaften, Feuerwehren oder Schützengesellschaften erfordert ein diplomatisches Geschick, das unbesehen mit dem Friedensnobelpreis honoriert werden könnte.
Und so kommt es, dass der SC Langenthal lieber freiwillig absteigt und in einem Lotterstadion Amateurhockey spielt als in einer modernen Anlage Profihockey. Und oben in Huttwil reibt sich Heinz Krähenbühl die Hände. Der erfolgreiche Hightech-Unternehmer war einst Präsident der Huttwil Falcons. Die schafften 2011 ganz regulär den Aufstieg in die damalige NLB. Ein Schock für die Langenthaler. Aber sie waren schlau: Sie seiften die Verbands- und Liga-Funktionäre gehörig ein und brachten sie dazu, den Huttwilern wegen eines angeblichen administrativen Formfehlers den Aufstieg zu verweigern. Worauf in einer ersten heftigen Reaktion der Klub in Huttwil aufgelöst und die Eisproduktion eingestellt wurde. Die Langenthaler frohlockten über den Untergang des lästigen Lokalrivalen.
Aber Heinz Krähenbühl hat nicht aufgegeben. Diese Schmach musste getilgt sein. Er hat dafür gesorgt, dass in Huttwil inzwischen wieder Eis produziert wird und seit 2018 rockt hier wieder ein Team in der MyHockey League. Nun stehen in der nächsten Saison Derbys gegen Langenthal an. Der SC Langenthal hat für nächste Saison noch keinen Präsidenten und keinen Trainer und keinen einzigen Spieler unter Vertrag. Die Besten werden wahrscheinlich gehen. Dario Kummer hat bereits eine Offerte aus Langnau. Der Wechsel von mindestens drei Spielern zu Hockey Huttwil ist schon aufgegleist.
Es ist nicht einmal mehr ganz ausgeschlossen, dass es noch vor Saisonende zu einem «Rampen-Verkauf» kommt. Und es passt zu Hockey-Seldwyla, dass Langenthals Sportchef Kevin Schläpfer schon für nächste Saison in Basel unterschrieben hat. Während er noch von Langenthal bezahlt wird, kann er bereits die Transfers von SCL-Spielern nach Basel vorbereiten. Wer kann, sollte dem nächsten Heimspiel am Sonntag gegen Thurgau (17 Uhr) beiwohnen. Vielleicht ist es der letzte Auftritt des SC Langenthal, wie wir ihn kannten und bewunderten.
Es handelt sich hier also nicht um ein Hockey-Drama. Sondern um eine Hockey-Komödie mit ungewissem Ausgang: Im schlimmsten Fall können mittelfristig die Huttwiler ihre moderne Anlage und die Langenthaler ihr Team nicht mehr finanzieren. Der Hockey-Hotspot Oberaargau verschwindet von der Landkarte. Gottfried Keller, der doch Seldwyla erfunden hat und sich als Zürcher Kantonsschreiber in der Politik auskannte, hätte die Finger von dieser Geschichte gelassen. Mit der Begründung, so viel Eitelkeit und Unverstand könne keinem Leser zugemutet werden. Aber die Wirklichkeit übertrifft – wie dieser Fall zeigt – selbst die Fiktion eines Dichters von Weltformat.