Der Herbst, wenn die Tage kürzer werden, ist eine wundersame Zeit der Gnade, Nachsicht und Vergebung: Das Ende der Qualifikation liegt noch in weiter Ferne, mehr als 30 Spiele und drei Monate hinter dem Horizont der Zeit und Entscheidung.
Ein kurioser Schiedsrichter-Entscheid, der ein Spiel entscheidet? Ach was, ist doch egal. Irren ist menschlich. Eine Niederlage wegen eines Lottergoalies? Seine Vordermänner sollten halt auch aufpassen! Punkte leichtsinnig verschenkt? In der Ajoie hinten verloren? Ein Pünktlein mehr oder weniger spielt doch keine Rolle und wir sollten Ajoie auch etwas gönnen. Heldentaten sind billig und nur für den Tag.
Wenn die Tage länger werden, beginnt eine ganz andere, seltsame und raue, beinahe gnadenlose Zeit: Jedes Spiel, jede Parade, jeder Schiedsrichterentscheid, jeder Punktverlust ein Drama. Punkte, im Herbst schon fast achtlos verloren, werden nun auf die Goldwaage gelegt und wertvoll wie Diamanten. «Crunchtime» sagen die Nordamerikaner. Frei übersetzt: «Wenn's drauf ankommt», oder salopp: «Wenn's kracht». Nun sind Heldentaten teuer und strahlen über den Tag hinaus.
Der Unterschied zwischen dem milden Herbst und dem rauen Klima der letzten Qualifikations-Runden lässt sich am anschaulichsten am Beispiel der SCL Tigers erklären. Schon zweimal haben sie in der Ajoie verloren und kaum jemand kümmerte es. 0:2 am 2. November und selbst das schmähliche 0:1 am 7. Januar provozierte nicht viel mehr als ein: «Na und?» Am nächsten Tag schon vergessen.
Aber Spielplan-General Willi Vögtlin hat es so eingerichtet, dass die Langnauer mit einem Sieg im letzten Spiel der Qualifikation auf heimischem Eis ausgerechnet gegen Ajoie zum ersten Mal seit 2019 und erst zum dritten Mal in ihrer Geschichte die Saison in der höchsten Liga nach oben verlängern können. Ob nach 60 Minuten, Verlängerung oder Penaltys ist einerlei: Ein Sieg am Samstag genügt und die Emmentaler sind im Play-In.
In dieser Situation gegen Ajoie verlieren? Es wäre eine Schmach, an das sich die Frauen, Männer und älteren Kinder im «Tal der heulenden Winde» noch in zehn Jahren erinnern würden. Ein Fehlgriff des Goalies, der diese Niederlage herbeiführt? Er würde während seiner ganzen restlichen Karriere den Schwefelgeruch des Versagens nicht mehr los. Ein kurioser Schiedsrichterpfiff, der die Partie entscheidet? Die Verschwörungstheorien («Liga-Mafia!») wären auf Jahrzehnte ein grosses Thema.
Am Donnerstag haben die SCL Tigers in Biel 3:4 nach Penaltys verloren und sich so mit einem Punktgewinn diese delikate Ausgangslage erarbeitet. Ein kurioser Entscheid von Schiedsrichter Daniel Stricker hat ihnen geholfen, diesen goldenen Punkt zu gewinnen. Der Bieler Toni Rajala versucht, sich strampelnd aus der Umklammerung von Langnaus Verteidiger Juuso Riikola zu befreien.
«Als ich sah, dass der Schiedsrichter eine Strafe anzeigte, war für mich die Sache klar», erzählt Rajala nach dem Spiel. «Zu meiner Überraschung bin aber ich bestraft worden.»
Daniel Stricker, legendär für minutiöse Regelkenntnis und für nullkommanullnullnullnull Fingerspitzengefühl wertet den Befreiungsversuch von Biels Topskorer als theatralisch und schickt ihn auf die Strafbank. No bad feelings beim Finnen: «Ich habe mich nach dem Spiel kurz mit ihm unterhalten. Er hat mir versprochen die Szene auf dem Video nochmals anzuschauen und mir bei Gelegenheit ein Feedback zu geben …»
Diese wohl kurioseste Strafe, die in der Neuzeit in der entscheidenden Phase eines entscheidenden Spiels gepfiffen worden ist, entscheidet womöglich über den Einzug ins Play-In. Die Langnauer nützen den Ausschluss zum 3:3 in der 55. Minute. Rein regeltechnisch ist die Sache in Ordnung. Aber Stricker hat das regeltechnische Haar mit dem Mikroskop in der Suppe eines intensiven Spiels gesucht und gefunden.
Die SCL Tigers verlieren zwar nach Penaltys 3:4. Aber womöglich haben sie die Zukunft gewonnen: Luca Boltshauser gewinnt nämlich das Duell gegen Biels Olympiasieger und Weltmeister Harri Säteri statistisch und auch gefühlt mit 93,33 Prozent gegen 91,67 Prozent.
Am 2. Februar verlieren die Langnauer in Lugano in der 17. Minute ihren Titanen Stéphane Charlin, den besten Torhüter der Liga, durch eine Verletzung. Boltshauser, bis zu diesem Zeitpunkt die glücklose Nummer 2, muss nun die ganze Verantwortung schultern. Eigentlich ist klar: Charlins Ausfall wird die Langnauer das Play-In kosten.
Aber Sportchef Pascal Müller und Trainer Thierry Paterlini verlieren die Nerven nicht. Sie verzichten auf die Verpflichtung eines ausländischen Goalies. Nächste Saison ist ja Charlin ohnehin weg (er hat bei Servette unterschrieben). Nächste Saison werden die Langnauer auf Boltshauser angewiesen sein. Charlin-Ersatz Robin Meyer (zurzeit noch Visp) wird keine Nummer 1 sein.
Wenn es also Luca Boltshauser gelingt, die Langnauer ins Play-In zu hexen, dann ist sein Selbstvertrauen so nachhaltig bis weit in die nächste Saison hinein frisch gebürstet und gekämmt, dass Langnau seine Goaliesorgen los ist und die Zukunft gewonnen hat. In Biel zeigt Boltshauser eine ganz besondere Qualität: als «Battling Player». So nennen die Nordamerikaner einen besonders kampfstarken Spieler, der in einer heiklen Phase eben nicht aufgibt und über sich hinauszuwachsen vermag.
Die drei Gegentreffer, die bis zur 32. Minute zu einem 1:3-Rückstand führen, sind – gnädig formuliert – nicht ganz unhaltbar und ungnädig formuliert sind sie haltbar. In der Regel ist nun der Abend gelaufen.
Aber Luca Boltshauser wird zum Helden der zweiten Spielhälfte. Er gibt nicht auf, reiht nun eine grosse Parade an die andere und hält alles. Am Ende stehen nach 65 Minuten eine famose Fangquote von 93,33 Prozent und ein goldener Punktgewinn. Trainer Paterlini, im Lob so sparsam wie in der Kritik zurückhaltend, sagt: «Ja, er war heute sehr gut.» Das bedeutet, übersetzt in die Alltagssprache übersetzt: «Ja, er war heute wahnsinnig, unglaublich, unfassbar gut.»
Wenn Boltshauser nun am Samstag den Sieg gegen Ajoie ermöglicht, dann ist er der Held der Saison. Eine Ehre, die er mit seinen Mitspielern teilen muss. Wenn er hingegen versagt und die SCL Tigers Sieg und Play-In verspielen, ist er der Depp über diese Saison hinaus und kann die Schmach mit niemandem teilen. An einen Abend kann er alles gewinnen oder alles verlieren. Es geht für die SCL Tigers um den Vater aller Siege oder die Mutter aller Niederlagen – «Crunchtime» eben.
PS: Am 28. September hat Langnau gegen Ajoie 4:1 gewonnen. Mit Luca Boltshauser im Tor. Die beiden anderen Partien gegen Ajoie hat Langnau diese Saison mit Stéphane Charlin 0:2 und 0:1 verloren.
Aktuelle
Note
7
Ein Führungsspieler, der eine Partie entscheiden kann und sein Team auf und neben dem Eis besser macht.
6-7
Ein Spieler mit so viel Talent, dass er an einem guten Abend eine Partie entscheiden kann und ein Leader ist.
5-6
Ein guter NL-Spieler: Oft talentierte Schillerfalter, manchmal auch seriöse Arbeiter, die viel aus ihrem Talent machen.
4-5
Ein Spieler für den 3. oder 4. Block, ein altgedienter Haudegen oder ein Frischling.
3-4
Die Zukunft noch vor sich oder die Zukunft bereits hinter sich.
Die Bewertung ist der Hockey-Notenschlüssel aus Nordamerika, der von 1 (Minimum) bis 7 (Maximum) geht. Es gibt keine Noten unter 3, denn wer in der höchsten Liga spielt, ist doch zumindest knapp genügend.
Punkte
Goals/Assists
Spiele
Strafminuten
Er ist
Er kann
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