Wer die Stärken von Nico Williams erkennen will, muss sich eigentlich nur sein Tor beim 4:1-Sieg im Achtelfinal gegen Georgien anschauen. Mit einer gefühlvollen Annahme nimmt der Spanier das hohe Zuspiel mit, lässt den Gegenspieler stehen und knallt den Ball dann ins kurze Eck. 3:1 für die Iberer – es ist die Vorentscheidung in der Partie.
Obwohl es bisher sein einziger Treffer in den fünf Einsätzen an dieser Europameisterschaft war, ist Williams eine der prägenden Figuren auf Spaniens Weg in den Final. Gemeinsam mit dem 16-jährigen Lamine Yamal bildet der fast auf den Tag genau fünf Jahre ältere Williams, der am heutigen Freitag seinen 22. Geburtstag feiert, eine Flügelzange, die an dieser EM alle begeisterte – und die bisher jedem Gegner das Fürchten lehrte.
Dabei ist es einem Zufall geschuldet, dass Nicholas Williams, wie Nico eigentlich heisst, überhaupt für die Furia Roja aufläuft. Vor allem ist es aber Mutter Maria und Vater Felix zu verdanken. Denn die Geschichte der Familie Williams ist eine von unfassbaren Schrecken, langen Leidenszeiten und schwierigen Umständen. Aber es ist auch eine Geschichte mit einem glücklichen Ende.
Als Maria und Felix Williams entschieden, Ghana zu verlassen, war Maria gerade schwanger, was sie zu dem Zeitpunkt aber noch nicht wusste. Später sagte sie einmal, dass sie die Flucht wohl nicht angetreten hätte, hätte sie von ihrem zusätzlichen Begleiter gewusst. So überliess das Ehepaar mit dem Ziel England sein gesamtes Erspartes einem Schlepper. Dieser liess sie jedoch auf halbem Weg in der Wüste Sahara zurück. Also liefen sie bei 40 bis 50 Grad zu Fuss weiter, lange ohne Wasser oder jegliche Nahrung, die Schuhe fielen irgendwann regelrecht von den Füssen. Noch heute leidet Felix Williams wegen dieser Reise unter Problemen mit seinen Fusssohlen.
Doch sie schafften es tatsächlich bis Melilla, einer spanischen Exklave nördlich der marokkanischen Grossstadt Nador. Dort kletterten Maria und Felix Williams über einen Grenzzaun, wurden in der Folge aber verhaftet. Nur aufgrund eines Tipps von einem Anwalt erhielten sie politisches Asyl in Spanien. Dieser riet nämlich, die ghanaischen Ausweise zu zerreissen und zu behaupten, dass sie aus Liberia kommen, wo zu dem Zeitpunkt gerade ein Bürgerkrieg tobte. Es war der erste Glücksfall in der Geschichte der Familie Williams.
Der zweite sollte sich wenig später ereignen. Zwar reichte es nicht ganz bis nach England, doch durften Maria und Felix Williams nach Bilbao reisen. Dort lernten sie Pfarrer Iñaki Mardones kennen, zu dem Zeitpunkt war Maria bereits im siebten Monat schwanger. Der Pfarrer brachte sie später dann zur Geburt ins Spital und wurde Götti sowie Namensgeber des im Juni 1994 geborenen ersten Sohnes: Iñaki Williams. Dieser ist der ältere Bruder von Nico, der erst acht Jahre später auf die Welt kam.
Mardones suchte ihnen nach Iñakis Geburt auch eine Sozialwohnung in Pamplona. Ausserdem schenkte er dem Jungen sein erstes Fussball-Trikot – eines von Athletic Bilbao. Die Eltern nahmen jeden Job, den sie bekamen. Einige Jahre nach der Geburt des zweiten Sohnes im Jahr 2002 zog der Vater dann nach London, wo er unter anderem bei Chelsea an der Ticketkontrolle arbeitete. In der Zeit, in der die Familie getrennt war, wurde Iñaki Williams fast zu einem Vater für seinen kleinen Bruder. Er unterstützte seine Eltern, indem er als Schiedsrichter arbeitete. Mit 18 Jahren wechselte er dann von Pamplona in die Jugend von Athletic Bilbao. Weil er im Baskenland geboren wurde, erfüllt er die Anforderungen des Klubs, der nur Basken akzeptiert.
Von der unfassbaren Geschichte seiner Eltern erfuhr Iñaki erst mit 20 Jahren, als Mutter Maria befand, dass er nun bereit dafür sei. Auch Nico wusste dementsprechend lange nichts von dem Leiden seiner Familie. Heute sagt der jüngere Williams: «Alles, was wir tun, ist für unsere Eltern. Sie haben ihr Leben riskiert, damit mein Bruder und ich eine bessere Zukunft haben. Und das haben sie geschafft.» Ihre Eltern hätten ihnen Respekt beigebracht, «und dass man jeden Tag hart arbeiten muss und nichts geschenkt bekommt».
Ein Jahr nach seinem Bruder kam Nico Williams von Osasuna zu Bilbao nach. Der heutige EM-Held bezeichnet seinen älteren Bruder als wichtigen Einfluss: «Für mich ist er ein Vorbild, ein Vater, ein Bruder, ein Freund – alles.» Iñaki habe ihm und seinen Eltern geholfen, «zu essen, in die Schule zu gehen und Kleider zum Anziehen zu haben». Die wichtigste Tat war aber wohl, dass er die Familie wieder vereinen konnte. Als der ältere Williams-Bruder 2015 seinen ersten Profivertrag in Bilbao unterschrieben hatte, verdiente er genug Geld, damit Vater Felix ins Baskenland zurückkehren konnte. Nach zehn Jahren war die vierköpfige Familie wieder beieinander.
Und während Iñaki Williams sich bei Athletic Bilbao schnell als Stammspieler etablierte und zum zweiten schwarzen Spieler und ersten schwarzen Torschützen des Klubs wurde, spielte sich sein kleiner Bruder durch die Nachwuchsteams des Klubs und durfte in der U18 auch fürs Nationalteam Spaniens auflaufen. Schon da stachen seine technischen Fertigkeiten und seine Schnelligkeit allen ins Auge. «Er ist eines der Highlights einer sehr guten Generation», sagte der spanische Juniorentrainer David Gordo zu dem Zeitpunkt.
Im April 2021 debütierte Nico Williams dann bei Bilbaos Profis, in der Saison 2021/22 kam er in fast jedem Spiel zum Einsatz, meist jedoch als Joker. In der Folgesaison spielte er sich dann aber fest, bildete eine Flügelzange mit Bruder Iñaki und deutete mit wettbewerbsübergreifend neun Treffern und sechs Assists gleich einmal sein ganzes Potenzial an. «Ich bin sehr stolz, was Nico schon mit 20 Jahren erreicht», sagte Iñaki damals zu The Athletic und fügte an: «Er macht Fortschritte als Spieler und als Person, er wird reifer. Das ist nur der Anfang.»
Was der ältere Williams damit gemeint haben könnte, wurde vielen dann in der Saison 2023/24 bewusst. Acht Tore und 19 Assists liess er sich in 37 Spielen gutschreiben. Ausserdem gehört der beidfüssige Flügelspieler gemeinsam mit Kylian Mbappé und Vinicius zu den dribbelfreudigsten Spieler der Top-5-Ligen. Was bei Williams zusätzlich heraussticht, ist seine Bereitschaft im Pressing sowie im Spiel gegen den Ball mitzuarbeiten. Und noch viel wichtiger: Gemeinsam mit seinem Bruder, der mittlerweile für Ghana spielt, führte er Athletic Bilbao zum Triumph im Copa Del Rey.
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— Athletic Club (@AthleticClub) April 6, 2024
Es war abgesehen von drei Siegen im Supercup der erste Titel seit dem Gewinn des Doubles vor 40 Jahren. Damit machten sich die Williams-Brüder sowie ihre Mitspieler unsterblich. Einer davon ist Routinier Ander Herrera, der über Iñaki und Nico sagte: «Als Fussballer sind sie enorm wichtig, aber auch persönlich sind sie fantastisch, immer am Lächeln.»
Die gute Laune und Spielfreude ist dem jüngeren Williams auch an der Europameisterschaft in Deutschland anzusehen. Hier wird sein Talent erstmals auch einem grösseren Publikum ausserhalb Spaniens bekannt, seine Familie ist jeweils im Stadion mit dabei. Mit Lamine Yamal versteht sich Williams ebenfalls hervorragend. Die beiden flinken und technisch grandiosen Flügelflitzer harmonieren auf und neben dem Platz.
Und ein kleines bisschen scheint Nico Williams für Lamine Yamal das zu sein, was Bruder Iñaki für ihn ist. So sagt ein Sprecher des spanischen Fussballverbands zur BBC: «Nico ist ein hervorragendes Vorbild. Lamine kopiert alles, was er tut. Nico steht auf, macht sich bereit und geht zu Lamines Zimmer, um ihn zu holen, damit niemand zu spät kommt.» In Zukunft könnten die beiden, deren Geburtstage nur einen Tag auseinanderliegen – Yamal wird am morgigen Samstag 17 –, auch im Klub gemeinsam wirbeln.
Es gibt Gerüchte, dass Williams noch in diesem Sommer zum FC Barcelona wechseln könne. Präsident Joan Laporta kündigte bereits an, das nötige Geld zu haben. Williams verfügt über eine Ausstiegsklausel in Höhe von rund 55 Millionen Euro in seinem bis 2027 laufenden Vertrag. Diesen unterschrieb er auch auf Raten seines älteren Bruders im letzten Dezember. Damit verhinderte er auch, dass Bilbao im Falle eines Abgangs leer ausgehen könnte, da sein vorheriger Vertrag in diesem Sommer ausgelaufen wäre. Vor einem allfälligen Wechsel hat Nico Williams aber noch eine andere Mission zu erfüllen.
Im Final gegen England vom Sonntagabend (21 Uhr) im Berliner Olympiastadion liegen die spanischen Hoffnungen zu einem beträchtlichen Teil erneut auf den beiden Jungstars. Williams und seine Familie wären auf beide Ausgänge vorbereitet: Sie wissen schliesslich, was es bedeutet zu leiden. Doch auch mit Happy Ends kennen sich Maria, Felix, Iñaki und Nico Williams aus.
Es ist immer wieder wunderbar zu lesen, welche integrative Wirkung Sport haben kann❤️
Und gerade im von teilweise korrupten und oft (geld-)gierigen/getriebenen Funktionären gebeutelten Fussball tut eine solche Geschichte (mit all ihren Facetten) besonders gut.
Gerne mehr davon ⚽🎉