Madeleine Boll kann es immer noch. Sie wirft den Ball in die Luft und köpfelt ihn auf dem schneebedeckten Fussballplatz. Für das Fotoshooting zeigt die 71-Jährige an diesem kalten Wintertag in Sierre vollen Einsatz.
1965 machte die damals 12-Jährige weltweit Schlagzeilen – als erste lizenzierte Fussballerin überhaupt. Seither ist viel passiert. In einem halben Jahr wird die Europameisterschaft in der Schweiz zu einem Grossanlass. Grund genug, mit Madeleine Boll zurückzublicken in die Anfänge des Fussballs der Frauen – und voraus in den kommenden Sommer.
Sie waren vor 60 Jahren die offiziell erste lizenzierte Fussballerin und waren eine Vorreiterin für den Frauenfussball. Fühlt sich die Heim-EM in diesem Jahr wie die Erfüllung eines Traums an?
Madeleine Boll: Damals habe ich natürlich nie gewagt, so weit zu träumen. Selbst vor wenigen Jahren noch konnte ich mir nie vorstellen, dass wir eine Europameisterschaft in der Schweiz organisieren würden. Es ist ein grosses Geschenk, etwas Aussergewöhnliches – und etwas, das lange völlig undenkbar war. Eine Europameisterschaft der Frauen von diesem Ausmass in der Schweiz – das ist mehr als die Erfüllung eines Traums. Es freut mich am meisten, dass durch dieses Fest die Sichtbarkeit steigt. Die Mädchen werden sehen, dass es möglich ist, Fussball zu spielen. In den Zeitungen wird über Frauenfussball geschrieben, im Fernsehen sind die Spiele zu sehen. Ich bin mir sicher, dass danach noch mehr Mädchen Fussball spielen möchten.
Als Sie mit dem Fussballspielen angefangen haben, war die Zeit eine andere. Wie kamen Sie dazu?
Ich komme aus dem Dorf Granges neben Sierre im Wallis. Als ich klein war, wohnten dort vielleicht knapp tausend Menschen. Ich habe schon von klein auf immer mit den Jungs mitgespielt. Ich wollte immer Fussball spielen. Meine Eltern haben nie gesagt: «Madeleine, du bist ein Mädchen, du musst etwas anderes machen.» In Granges war es für alle immer einfach normal, dass ich Fussball spiele. Anders war es dann, als ich später beim FC Sion im Klub begann, Fussball zu spielen.
Beim FC Sion erhielten Sie einen Spielerpass für Buben – und wurden so zur ersten lizenzierten Fussballerin überhaupt.
Genau. Als ich 12 Jahre alt war, trat ein Freund von mir dem Klub bei. Er erzählte mir davon und ich sagte: «Ich würde auch gerne spielen, aber ich bin ein Mädchen.» Er meinte: «Ich frage meinen Trainer.» Dieser sagte tatsächlich ja. Und so ging ich zu diesem Training. Noch immer weiss ich, wie nervös ich war. Ich war besorgt und dachte: «Vielleicht hat er nicht verstanden, dass ich ein Mädchen bin.» Doch als ich da erschien, war alles in Ordnung. Ich habe dann die letzte Viertelstunde mitspielen dürfen. Danach nahm mich der Trainer zu Seite. Er sagte: «Madame, nächstes Mal kommst du mit Fussballhosen und passenden Schuhen.» Ich hatte zum Training einen Faltenrock und normale Strümpfe getragen.
Im September 1965 machte Ihre Geschichte weltweit Schlagzeilen. Sie stahlen sogar den Cupsiegern des FC Sion die Show. Wie lief diese Geschichte ab?
Sion hatte zum ersten Mal den Schweizer Cup gewonnen und spielte im Europacup der Cupsieger. Es ging gegen Galatasaray – und Sion gewann mit 5:1. Als Vorspiel gab es eine Partie zwischen zwei C-Juniorenteams des FC Sion. Ich war auch dabei. Sonst spielten nur Jungs mit, etwa der spätere Nationalspieler Umberto Barberis. Für das Europacupspiel sind Journalisten aus der ganzen Schweiz angereist. Sie haben gesehen, dass ein Mädchen mitgespielt hat, das machte dann plötzlich überall Schlagzeilen. In der Schweiz, aber auch in Italien, Schweden, Venezuela, Gabun oder England. Überall waren die Menschen erstaunt darüber, dass ein Mädchen Fussball spielt. Als die Journalisten beim FC Sion nachfragten, hiess es: «Sie hat eine Lizenz. Sie darf spielen.»
Daraufhin wurde Ihnen der Spielerpass vom Schweizerischen Fussballverband wieder entzogen.
Der SFV hat mir die Lizenz zum Fussballspielen ganz normal ausgestellt, ohne zu realisieren, dass ich ein Mädchen bin. Als dann durch die Schlagzeilen in der Presse die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wurde, haben sie mir die Lizenz wieder entzogen.
Wie haben Sie sich damals gefühlt?
Für mich war das ein riesiger Schock. Ich war 12 und verstand überhaupt nicht, warum ich nicht spielen durfte. Zumal auch die Begründung unverständlich war. Es hiess, dass in den Statuten stehe, dass Mädchen nicht Fussball spielen dürfen. Aber: Statuten können geändert werden. Der zweite Grund hat mich aber noch viel mehr gestört. Sie haben bei einem Arzt nachgefragt, der dann erzählt hat, dass es ungesund sei für Mädchen, zu kicken – ohne mich überhaupt zu kennen. Dabei haben meine Eltern das vorher auch schon bei meinem Hausarzt abgeklärt. Dieser sagte: «Madeleine ist gross, kräftig und fit. Sie kann spielen.»
Sie kämpften weiterhin dafür, Fussball spielen zu dürfen – und wurden so zu einer Pionierin. Waren Sie sich dessen bewusst?
Gar nicht. Sehen Sie: Als 12-Jährige ist man egoistisch. Du schaust für dich und versuchst, dass du das machen kannst, was dich glücklich macht. Und ich war glücklich, wenn ich Fussball spielen konnte. Ich habe nie an den Kampf gedacht, der dafür nötig ist. Ich war keine Feministin, ich wollte einfach nur Fussball spielen. Aber natürlich bin ich mir jetzt rückblickend bewusst, dass es wichtig war, weil ich zeigen konnte, dass Mädchen etwas machen können, was sonst Männer machen.
Und Sie liessen sich nach Ihrer entzogenen Lizenz nicht unterkriegen. Wo spielten Sie danach weiter?
In Lausanne gab es ein Schülerturnier, dort wurde kein Spielerpass verlangt. Also machte ich dort mit. Mittwochs reiste ich also nach Lausanne. Bei dem Schülerturnier waren die Teams benannt nach grossen Klubs. Es gab Benfica oder Liverpool, ich spielte bei Racing Paris. Wir hatten Trikots in Blau und Weiss. Ich war mächtig stolz. Zwei Jahre lang spielte ich da, bis ich am Mittwochnachmittag wegen eines obligatorischen Haushaltkurses nicht mehr teilnehmen durfte. Da begann ich mit dem Laufen.
Es lag auf der Hand, dass Sie eine andere Sportart starteten. Schliesslich war die Leichtathletik im Gegensatz zum Fussball für Mädchen etabliert.
Aber ich liebte den Fussball immer viel mehr. Das Laufen war auch cool, ich mochte den Wettkampf. Ich habe an der Leichtathletik-Schweizer-Meisterschaft teilgenommen. Ich hatte Ausdauer und habe viel gewonnen. Zwischenzeitlich habe ich geträumt, an die Olympischen Spiele zu gehen. Doch dann kriegten wir an Weihnachten 1969 einen Anruf, der alles änderte.
Wer rief an?
Ein Tessiner Anwalt rief meine Eltern an und fragte: «Was halten Sie davon, wenn Ihre Tochter in Italien Fussball spielen würde?» Er hatte meine Geschichte gelesen und kontaktierte mich im Namen eines italienischen Klubs. In Italien haben sie eine Frauen-Liga gegründet. Meine Eltern wussten, dass ich unbedingt dabei sein möchte. Ich musste nicht einmal betteln. Ich lebte weiterhin im Wallis, aber spielte in Italien. Am Wochenende nahm ich um 8 Uhr den Zug, fuhr nach Mailand, am Nachmittag war das Spiel – und dann ging es wieder zurück. Noch weiter war es, wenn wir auswärts spielen mussten. Es war eine nationale Meisterschaft und wir mussten in ganz Italien umherreisen. Fünf Jahre lang ging das so – ehe ich wieder in der Schweiz spielte.
1975 wechselten Sie zurück nach Sion, wo es einen Frauenklub gab. Wie ging es hierzulande mit der Entwicklung weiter?
In jener Zeit entstand der Fussball der Frauen in vielen Ländern gleichzeitig. In Italien, in England, in Frankreich – überall gab es Frauen, die anfangen wollten, Fussball zu spielen. Dabei war es in vielen Ländern sogar verboten. In der Schweiz ging es etwas länger, aber auch hier passierte einiges. Beim ersten inoffiziellen Frauenspiel im Wallis war ich sogar dabei. Das war 1968. Mein Vater war beim Bau eines neuen Fussballplatzes in Granges beteiligt. Dafür gab es eine Einweihungsfeier. Es gab die Idee, dass Frauen ein Spiel bestreiten können. So kam es zu einer Partie, in der Kassiererinnen der Migros gegen Kellnerinnen von der Bar des ehemaligen Nationaltorhüters Léo Eichmann antraten. Ich war dank meines Vaters auch dabei. Für das Fest waren fast 2000 Menschen vor Ort. So haben viele Menschen gesehen, dass auch Frauen Fussball spielen können. Indirekt entstand so das erste Team im Wallis. Drei Mädchen aus Sion haben mir daraufhin geschrieben, dass sie einen Klub gründen möchten. Wir gründeten den FC Valère, benannt nach der Basilika von Valeria in Sion, der später zum FC Sion Féminin wurde. Mein Vater, Jean Boll, wurde Präsident des Vereins. Gleichzeitig entstanden auch an anderen Orten Vereine, etwa in Zürich, in Aarau oder in La Chaux-de-Fonds. Später resultierte daraus die erste Fussballliga in der Schweiz, die 1971 startete.
Während Sie da schon in Italien spielten, war Ihr Vater daran beteiligt, den Frauenfussball in der Schweiz zu fördern. Hatten Sie Ihr Hobby Ihren Eltern zu verdanken?
Ich hatte definitiv das Glück, dass meine Eltern meinen Wunsch immer unterstützt haben. Mein Vater war kein Fussballspieler, aber er hat verstanden, dass seine Tochter dieses Spiel liebt – und dann hat er mich unterstützt. Besonders schön war für mich der erste Cupsieg 1976 mit Sion, bei dem ich Captain war. Mein Vater hat mir den Pokal überreicht, im Namen des Verbandes. Auch meine Mutter war sehr hilfreich und stolz. Sie hat von mir alle Artikel aufbewahrt. Ohne die Unterstützung meiner Eltern wäre es nie möglich gewesen, in Italien zu spielen.
Italien ist ein gutes Stichwort: In Italien fand das erste Frauen-Länderspiel der Schweizer Fussballgeschichte statt – mit Ihnen als Nationalspielerin.
Die Schweiz wurde nach Salerno eingeladen zur ersten inoffiziellen Weltmeisterschaft in Italien. Wir durften dort das Eröffnungsspiel gegen Italien bestreiten. Es war am 8. Juli 1970, ausgerechnet an meinem 17. Geburtstag. Wir haben 1:2 verloren, aber das war unfair. Der italienische Schiedsrichter pfiff völlig einseitig für das Heimteam. Ein reguläres Tor wurde annulliert, einen Treffer den Italienerinnen gegeben, obwohl der Ball die Linie nicht überschritten hatte. Als Folge davon nahmen wir im Jahr darauf an der zweiten inoffiziellen WM in Mexiko nicht teil. Erst 1972 ging es mit den offiziellen Länderspielen los. Ich bin sehr stolz darauf, in den Anfängen des Nationalteams mit dabei gewesen zu sein.
Eine Länderspielreise dürfte damals nicht mit jenen von heute zu vergleichen gewesen sein.
Das war natürlich eine völlig andere Welt. Wir haben unsere Reise selber bezahlt, haben dann in einer Jugendherberge geschlafen. Und wir hatten nie Trikots, die für uns geeignet waren. Wir hatten immer irgendwelche Leibchen für Männer, die waren uns viel zu gross. Aber uns war das egal, wir waren schon glücklich, wenn wir spielen konnten. Damit war ein kleiner Schritt in Richtung Gleichberechtigung gemacht. Aber das ist ein steter Kampf. Ein Beispiel, das noch nicht so lange her ist: Als der FC Zürich zum ersten Mal in der Champions League antrat, wurde es zum ersten Fernsehspiel. Doch sie spielten auf einem Fussballplatz, der einfach nicht gut aussah. Das war nicht in Ordnung, gar respektlos den Spielerinnen gegenüber. Das hat sich in den letzten Jahren aber zum Glück auch verändert, jetzt sind solche Spiele jeweils in grossen Stadien. Das ist für die Sichtbarkeit enorm wichtig.
In diesem Sommer wird die Sichtbarkeit gegeben sein für die Fussballerinnen: Dann findet die Europameisterschaft in der Schweiz statt. Wer gewinnt den Titel?
Ich sage Spanien. Die Weltmeisterinnen sind immer noch am besten besetzt. Aber wenn man die Auslosung anschaut, dann ist auch für unser Nationalteam einiges möglich. Ich glaube, dass es wichtig ist für die Schweiz, die Gruppe zu gewinnen, dann würde man wohl den Spanierinnen im Viertelfinal aus dem Weg gehen. Norwegen, Island und Finnland sind physisch gut, sie werden kämpfen. Zwar ist die Schweiz an einer EM noch nie weitergekommen, doch mit der Begeisterung im eigenen Land glaube ich daran.
Was macht Sie so optimistisch?
Ich habe ein gutes Gefühl. Nationaltrainerin Pia Sundhage hat es gewagt, im Herbst gegen Frankreich, Australien, Deutschland und England zu testen. Sie hat Mut und vertraut ihrem Team. Abgesehen von der Klatsche gegen Deutschland haben sich die Schweizerinnen gut geschlagen, gegen Frankreich sogar gewonnen. Sundhage hat es geschafft, aus den bestehenden Spielerinnen und vielen Jungen etwas Neues zu formen. Ich habe übrigens eine spezielle Verbindung zu Pia Sundhage. Ich wusste das natürlich zunächst nicht mehr, aber es stimmt: 1977 sind wir in einem Länderspiel zwischen der Schweiz und Schweden gegeneinander angetreten. Sundhage war damals noch sehr jung, bei mir war es kurz bevor ich aufgehört habe. Aber zurück zu meinem Optimismus: Der gründet natürlich auch in den jungen Talenten im Nationalteam, sie sind einfach wunderbar. Für mich als Walliserin ist besonders zu sehen, wie talentiert Iman Beney und Naomi Luyet sind. Sie haben beide grosses Potenzial und werden uns viel Freude bereiten. Und auch von Smilla Vallotto bin ich begeistert, obwohl ich sie persönlich nicht kenne.
Sie haben für die heutige Generation den Weg geebnet. Sind Sie für die heutigen Nationalspielerinnen ein Vorbild?
Ich glaube nicht, dass ich heute noch ein Vorbild sein kann. Da gibt es andere, beispielsweise Lara Dickenmann, Gaëlle Thalmann oder Ramona Bachmann. Noelle Maritz kenne ich noch von der Zeit, als ich für den Verband gearbeitet habe. Und Beney und Luyet kenne ich vor allem durch ihre Eltern. Einmal habe ich mit ihnen beiden ein Foto gemacht. Sie wissen also zumindest, dass es mich gibt.
Beney und Luyet haben schon von klein auf weibliche Vorbilder im Fussball. Das war zu Ihrer Zeit noch ganz anders.
Meine Vorbilder im Fussball waren logischerweise nur Männer. Ich fand immer Karli Odermattt sehr gut. Er hat im Mittelfeld gespielt, so wie ich. Oder natürlich Pelé. Ich glaube, dass auch heute viele Mädchen im Fussball immer noch zu Männern hochschauen. Aber es kommt langsam. Es freut mich, dass immer mehr Mädchen Fans von Fussballerinnen sind. Früher hatten bei Länderspielen nur die Angehörigen von Spielerinnen ein Trikot einer Spielerin, doch das ändert sich. Immer mehr Mädchen tragen Wälti oder Bachmann auf dem Rücken – oder hier im Wallis Beney oder Luyet.
Birgt die Beliebtheit auch eine Gefahr für den Frauenfussball?
Mein Traum ist es, dass wir es trotz der steigenden Beliebtheit schaffen, unsere Werte im Fussball zu behalten. Natürlich schaut sich der Frauenfussball viel vom Männerfussball ab – aber ich hoffe, dass nicht das Falsche kopiert wird. Ich fände es schön, wenn die Spielerinnen fair bleiben und nicht spucken oder simulieren. Ob das mit dem Geld, das jetzt kommt, so bleibt? Wer weiss.
Wie viele Spiele werden Sie an der EM im Stadion sehen?
So viele wie möglich. Ich komme wohl so auf 15. Ich habe mir für viele Spiele Tickets gekauft, zudem bin ich vom SFV für die Spiele der Schweizerinnen eingeladen. Es ist für mich das grösste Geschenk, dass auch in Sion gespielt wird. 1965 hat meine Geschichte im Fussball in Sion begonnen und 2025 wird dort eine EM gespielt. Damit schliesst sich ein Kreis. Aber jetzt habe ich ein Problem: Das zweite Spiel der Schweizerinnen findet am gleichen Tag statt wie eine Partie in Sion. Vielleicht brauche ich einen Helikopter, um bei beiden Spielen zu sein. (lacht)
Das EM-Maskottchen heisst «Maddli». Es ist benannt nach Ihrem Vornamen. Was löst das bei Ihnen aus?
Ich habe nicht damit gerechnet und war sehr überrascht, als ich angefragt wurde. Natürlich ist das eine grosse Ehre. Das Maskottchen heisst «Maddli», das ist eine Variante, die ziemlich weit von meinem echten Namen entfernt ist. Meine Freunde nennen mich eigentlich «Mado». Aber als ich «Maddli» gesehen habe, habe ich mich enorm gefreut. Für mich als Walliserin hat dieser süsse Bernhardiner eine grosse Bedeutung. Ich bin sehr stolz, dass «Maddli» an der EM dabei ist. (aargauerzeitung.ch)