Die Stimme von Gelson Fernandes am Telefon überschlägt sich fast. Natürlich, weil es um Eintracht Frankfurt geht. Um seinen ehemaligen Verein. Den Verein, der heute wieder einmal die Chance hat, Geschichte zu schreiben. Das Rückspiel im Halbfinal der Europa League steht an. West Ham United heisst der Gegner. 2:1 gewann Frankfurt das Hinspiel. Ein letzter Schritt also fehlt nur noch, um erstmals seit 1980 wieder in einem europäischen Finale zu stehen. Und darum sagt Gelson: «Die ganze Region befindet sich im Rausch.»
Die Bilder des Triumphs im Viertelfinal über Barcelona gingen um die Welt. Wie die Eintracht-Fans die Stadt Barcelona einnahmen, aus dem Auswärtsspiel plötzlich ein Heimspiel wurde. Wie die Mannschaft am Tag danach, voller Euphorie das Auslaufen an den Strand verlegte – und dabei von den Fans noch einmal gefeiert wurde, als hätte sie gerade die Champions League gewonnen.
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— Eintracht Frankfurt (@Eintracht) April 15, 2022
Gelson Fernandes war 2019 als Spieler der Eintracht dabei, als das Team bereits einmal kurz vor dem Einzug in den Europa-League-Final stand. Gegen Chelsea dann aber im Penaltyschiessen scheiterte. «Ich erinnere mich gerne an die Tage rund um diese beiden Partien, es herrschte eine unglaubliche Stimmung in der Stadt. Schade, verpassten wir es, Geschichte zu schreiben. Nun holt es die Eintracht eben jetzt nach. Denn eines ist klar: Was die Spieler von West Ham erwartet, das kennen sie nicht. Diese Atmosphäre im Stadion, die kann man nicht beschreiben – nur erleben.»
Es gibt wenige Vereine in Europa, die eine so innige Liebe zu den europäischen Wettbewerben pflegen wie Eintracht Frankfurt. Warum ist das so? Für den heutigen YB-Sportchef Christoph Spycher, der zwischen 2005 und 2010 bei der Eintracht spielte, gründet diese spezielle Beziehung aus den 80er-Jahren. «Der Triumph 1980 im Uefa Cup spielte eine wesentliche Rolle. Von da an wurden die Reisen und Erlebnisse auf europäischer Bühne Kult. Diese Bedeutung wird auch vom Verein kultiviert.»
Auch Spycher erlebte in einer Saison diese «Magie und Begeisterung», wie er es nennt. Er erzählt:
Einen derart siegreichen Parcours wie in diesem Jahr war es damals nicht, «im letzten und entscheidenden Gruppenspiel bei Fenerbahce Istanbul gaben wir eine 2:0-Führung noch aus der Hand und schieden aus», erinnert er sich.
Wie die Eintracht als Verein funktioniert, erklärt man vielleicht am besten mit Peter Fischer. Fischer ist der Präsident. Der Mann, der seit dem Rückzug von Heribert Bruchhagen zum Gesicht des Klubs geworden ist. Wenn die Fans in Barcelona am Nachmittag in der Stadt dem Spiel entgegenfiebern, steht Fischer völlig selbstverständlich mittendrin. Und kündet auch gleich frei von Zweifeln und Zurückhaltung an: «Wir feiern die grösste Party, die diese Stadt je gesehen hat.»
Fischer hat eine direkte und klare Ansprache, wie sie im Sport selten geworden ist. Er sagt ganz selbstverständlich: «Der Sport muss politisch sein!» Und steht mit seinem Verein für Diversität und gegen Diskriminierung. Eine Haltung, die gerade in einer internationalen Stadt wie Frankfurt sehr gut ankommt. Für die Fans in Frankfurt ist Fischer längst eine Ikone. Dass er einen sehr guten Draht in die Fan-Szene hat und im Zweifel eher eine Spur zu viel Verständnis hat für einige Begleiterscheinungen, die der Fussball auch in Frankfurt mit sich bringt (Stichwort: Ausschreitungen), hilft ihm dabei gewiss.
Auf dieser märchenhaften Frankfurter Reise ist auch jetzt wieder ein Schweizer mit dabei: Djibril Sow. Der Mittelfeldakteur verpasste zwar die magische Nacht in Barcelona verletzt, spielt aber eine tolle Saison. Und stand beim 2:1 im Halbfinal-Hinspiel gegen West Ham am Ursprung des zweiten Tores. Sow kündet nun an: «Dieses Spiel ist das wichtigste der Saison für uns.» Zumindest bis zum Final, könnte man anfügen.
Womit wir wieder bei Präsident Fischer sind. Auf die Frage der «Bild»-Zeitung, wen er sich denn als Finalgegner wünsche, die Glasgow Rangers oder Leipzig, entgegnete er:
Ja, die Euphorie in Frankfurt, in der Stadt und im Klub, ist gerade kaum zu bremsen. Für einen Trainer nicht gerade die beste Ausgangslage. Darum betont Oliver Glasner: «Es ist wichtig, nicht zu überdrehen.» Es tönt wie eine Warnung.