Es war in einer Zeit, bevor Lionel Messi und Cristiano Ronaldo Tor um Tor schossen, bevor sie Titel um Titel gewannen und bevor sie Rekord um Rekord brachen. Da lautete die Frage, wer der beste Fussballer der Geschichte ist: Pelé oder Maradona?
Die FIFA löste diese Aufgabe diplomatisch. Sie kürte anfangs 2001 sowohl den Brasilianer Pelé wie auch den Argentinier Diego Armando Maradona zum «Spieler des Jahrhunderts».
Diese Anekdote kam mir in den Sinn, als ich unlängst ein kurzes Video der beiden Ausnahmefussballer sah. Sie unterstreicht die Stellung Pelés. Wir können heute nur schwer beurteilen, wie gut er wirklich war. Ihn sah nie jemand Fussball spielen, der heute nicht 60 Jahre alt ist. Im Nationalteam endete Pelés Karriere 1971 und abgesehen von den WM-Turnieren gab es kaum eine Möglichkeit, die Weltstars jener Zeit spielen zu sehen.
Das besagte Video ist auf den ersten Blick unspektakulär. Maradona verrät Pelé in einer Talkshow, es sei sein Traum, mit ihm Kopfbälle hin und her zu spielen. Pelé willigt ein – und zeigt im gesetzten Alter, dass er nichts von seiner brillanten Technik eingebüsst hat. Als wäre es eine Computer-Animation, fliegt der Ball rhythmisch von einem Kopf zum anderen, ohne dass die zwei Legenden sich dabei gross bewegen müssen.
Maradona to Pele: "A dream of mine is to do a couple of headers with you." 🥹❤️pic.twitter.com/s53VhQHxZz
— EuroFoot (@eurofootcom) December 23, 2022
«Ich fühlte mein Herz schlagen und war froh, dass es nun endlich vorbei war», sagte Pelé. Aber natürlich nicht über die Kopfball-Einlage mit Maradona. Er sagte dies nach seinem 1000. Tor als Profi. Eintausend Tore! In einer Ära, in der Stürmer fast Freiwild waren und oft übel getreten wurden.
Wochenlang hatte ganz Brasilien auf diesen besonderen Moment hingefiebert, der am 19. November 1969 Tatsache wurde. Vier Monate nachdem mit Neil Armstrong der erste Mensch auf dem Mond spaziert war, verwandelte Pelé im legendären Maracana-Stadion in Rio de Janeiro einen Foul-Penalty. Eigentlich eine unwürdige Art für so ein spezielles Ereignis, aber was soll's.
In ganz Brasilien wurden die Kirchenglocken geläutet und die brasilianische Post widmete «O Milésimo», dem tausendsten Treffer ihres Grössten, eine Sonderbriefmarke. Zu dem Zeitpunkt war Pelé zweifacher Weltmeister. «Seinen» FC Santos, für den er 18 Jahre lang auflief, führte er zu zwei Dutzend Titeln.
Richtig begonnen hatte diese einzigartige Laufbahn im Herbst 1956. Schon nach wenigen Monaten war der 16-jährige Pelé Stammspieler und er wurde mit 36 Toren in 29 Spielen Torschützenkönig der Staatsmeisterschaft von São Paulo, der Campeonato Paulista. Ein Stern war aufgegangen, der Brasiliens Nationaltrainer nicht verborgen blieb. Vicente Feola nahm Pelé mit nach Schweden an die WM 1958 – obwohl Psychologen ihn im Vorfeld als «infantil» bewertet hatten.
In Skandinavien war es Pelé zu kalt, er hatte Heimweh. Doch er traf, als es darauf ankam. Er schoss das Siegtor beim 1:0 im Viertelfinal gegen Wales, er erzielte beim 5:2 im Halbfinal gegen Frankreich einen lupenreinen Hattrick und er traf im Final, den die Seleçao gegen Schweden ebenfalls 5:2 gewann, zwei weitere Male. Pelé reiste als Teenager nach Europa und kehrte als Fussballkönig zurück. «O Rei» rief man ihn, der die Welt mit seiner Ankunft am 23. Oktober 1940 beglückte, fortan.
Der Name des Orts, an dem Pelé als Edson Arantes do Nascimento geboren wurde, wirkt geradezu schicksalhaft. Três Corações heisst die kleine Stadt, übersetzt: drei Herzen. Die schlagen in Brasiliens wichtigsten Metropolen São Paulo, Rio de Janeiro und Belo Horizonte. Und in ihrer Mitte, von allen etwa gleich weit entfernt, liegt eben: Três Corações, der Geburtsort von Pelé, der die Herzen so vieler Millionen Fans höher schlagen liess. Pelé war nicht aus einer der grossen drei Städte, Pelé war ein Brasilianer für alle Brasilianer.
Was Cristiano Ronaldo der Welt zeigte, was Johan Cruyff vorführte, was Zinédine Zidane oder Lionel Messi beherrsch(t)en: Pelé konnte alles schon vor den anderen. Mit Lederbällen, in Baumwolltrikots und auf Rasen, die kaum die heutige Qualität erreichten. Das folgende Video ist ein eindrücklicher Beleg dafür, was Pelé alles konnte. Nämlich: alles.
Kein Wunder, rissen sich die grössten Klubs der Welt um so einen talentierten Fussballer. Doch nach dem Gewinn des WM-Titels 1958 erhielten Real Madrid und die grossen italienischen Klubs trotz hoher Gebote alle Absagen. Pelé hätte vielleicht gerne gewechselt. Doch die brasilianische Regierung erklärte den 18-Jährigen zum «nationalen Gut» und verbot einen Transfer ins Ausland. Um es sich mit der populären Nummer 10 trotzdem nicht zu verscherzen, erhielt er einen Lohn, der höher war als jener des Staatspräsidenten.
Später war Pelé angeblich sogar einmal der Grund, dass ein Bürgerkrieg unterbrochen wurde. In Nigeria verständigten sich die verfeindeten Lager auf eine Waffenruhe, damit in Lagos ein Freundschaftsspiel von Santos durchgeführt werden konnte.
Drei Wochen vor seinem 34. Geburtstag schnürte Pelé seine Schuhe ein letztes Mal für den FC Santos. Doch er kehrte nach seinem Rücktritt auf den Rasen zurück, wenn auch nicht aus ganz freien Stücken. Pelé, der nur selten die Schulbank drückte und als Siebenjähriger schon als Schuhputzer Geld verdienen musste, hatte sein Vermögen bei Immobiliengeschäften verloren, hohe Schulden belasteten ihn.
Die New York Cosmos vergoldeten ihn und sorgten Ende der 1970er-Jahre für eine kurze Zeitspanne, in der Soccer in den USA hip war. Pelé war die grösste Nummer, die die Verantwortlichen verpflichten konnten. Denn bis heute ist er der einzige Fussballer, der es schaffte, dreimal Weltmeister zu werden. Dem ersten Titel 1958 liess Brasilien nur vier Jahre später den zweiten folgen – es war das bislang letzte Mal, dass ein Weltmeister seinen Titel verteidigen konnte. 1962 in Chile war Brasilien so gut, dass es weitgehend auf Pelé verzichten konnte. Der Superstar fiel ab dem zweiten Gruppenspiel verletzt aus.
Zog er sich diese Blessur noch selber zu, bei einem Schussversuch, so war Pelé 1966 an der WM in England zur laufenden Zielscheibe der gegnerischen Verteidiger verkommen. Die Portugiesen foulten ihn, wie sie nur konnten, kamen zu einem Sieg und schickten Brasilien schon nach der Vorrunde heim.
Gut für Pelé, dass er seine in der ersten Wut gemachte Aussage nicht in die Tat umsetzte. Er werde nie mehr an einer WM spielen, hatte er angekündigt, weil man die Gegner nach ihm treten liess, ohne sie dafür zu bestrafen. 1970 in Mexiko war er wieder der Alte und er führte eine Seleçao an, die häufig als bestes brasilianisches Nationalteam der Geschichte genannt wird. «Vor dem Endspiel sagte ich zu mir: Pelé ist aus Fleisch und Knochen, so wie ich. Danach erkannte ich, dass ich Unrecht hatte», musste sich der unterlegene Italiener Tarcisio Burgnich eingestehen.
Wer ihn spielen sah oder ihm auf dem Feld gegenüberstand, erzählte Wunderdinge über diesen Fussballer. So sagte die ungarische Legende Ferenc Puskas, der beste Spieler der Geschichte sei Alfredo Di Stefano gewesen, denn «ich weigere mich, Pelé als Spieler zu klassifizieren. Er war darüber». Di Stefano selber nannte Pelé den besten Spieler der Geschichte: «Messi und Cristiano Ronaldo sind beides grossartige Spieler mit ausserordentlichen Fähigkeiten, aber Pelé war besser.»
Der Franzose Just Fontaine, Torschützenkönig der WM 1958, sagte: «Als ich Pelé spielen sah, wollte ich meine Fussballschuhe nur noch an den Nagel hängen.» Und der Engländer Bobby Moore erzählte: «Ich erinnere mich, wie Trainer Saldanha von einem Journalisten gefragt wurde, wer der beste Torwart in seinem Kader sei. Er antwortete: Pelé. Der Mann konnte auf allen Positionen spielen.»
Nach dem endgültigen Rücktritt 1977 blieb Pelé in der Öffentlichkeit. Er machte Werbung für Kreditkarten und für Viagra (was passte, wurde er doch als 56-Jähriger nochmals Vater von Zwillingen), er gab seinen Namen für vieles Weiteres her, amtete drei Jahre lang als brasilianischer Sportminister und reiste als UNO-Sonderbotschafter für Entwicklungshilfe um die Welt.
In all seinen Ämtern verrannte er sich dann und wann. Der Sockel, auf dem Pelé stand, erhielt Risse. Er war nicht mehr nur ein grosser Fussballer, sondern auch ein abgehobener Funktionär und Lobbyist. Brasilien liebte ihn nicht mehr so wie einst.
Vielleicht hätte er es besser irgendwann sein lassen, ein Teil des Establishments zu sein. Denn seine Bestimmung war es, auf dem Rasen zu glänzen und den Menschen Freude zu bereiten. Pelé wusste das, denn er hielt einst ziemlich unbescheiden fest:
Nach Argentiniens Gewinn der WM in Katar gab Pelé eines der letzten öffentlichen Lebenszeichen von sich. «Diego lächelt jetzt bestimmt», schrieb er auf Instagram zu einem Bild, das Lionel Messi und seine Teamkollegen mit dem WM-Pokal zeigt.