Als er sein drittes Bier innerhalb einer Stunde durch die Kehle hat rinnen lassen, dreht sich Nigel Thompson zur linken Seite ab und setzt zu einer Tirade an - oder «rant», wie sie es auf der Insel nennen. Es ist der Abend vor den Wahlen in Grossbritannien und der Maler sitzt am Tresen des Pubs «Prince of Wales» im Südwesten Londons. Draussen setzt Regen ein.
«Passt doch zu uns», sagt Nigel Thompson, der seinen richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. Man kann ihn verstehen, wenn man hört, wie er den Zustand Grossbritanniens beschreibt. 14 Jahre regierten die konservativen Tories. Sie verbrannten in dieser Zeit fünf Premiers: David Cameron, Theresa May, Boris Johnson, Liz Truss und zuletzt Rishi Sunak. Gerade einmal 49 Tage hielt sich Truss im Amt. Nun hat sie sogar ihren Sitz im Parlament verloren.
Grossbritannien ist ein Land im Krisenmodus. Oder wie es Thompson sagt: «Wir werden von moralisch bankrotten Bastarden regiert. Von einer Schar herzloser, arroganter, ahnungsloser Selbstdarsteller, denen es nur darum geht, sich zu bereichern.» Als Beispiel nennt er den jüngsten Skandal. Vor der Wahl hatten Konservative auf den Termin der Parlamentswahl gewettet, um mit ihrem Insiderwissen ein paar Pfund zu ergattern.
Der staatliche National Health Service ist chronisch unterbesetzt und unterfinanziert, es folgten Streiks des medizinischen Personals. Dazu kamen die Coronapandemie, die Migration, die Inflation. Die Obdachlosigkeit hat sich verdoppelt, Kinderarmut verdreifacht, die Bevölkerung leidet unter den hohen Energiepreisen, die Gefängnisse sind überfüllt, die Renten tief.
Wer an den Wochenenden die TV-Bilder aus der Premiere League sieht, kann kaum glauben, dass es sich um das Land handelt, das der 47-Jährige Thompson beschreibt. Es sind Hochglanzbilder, die Stadien randvoll, der Lärm ohrenbetäubend. Statussymbole verschwinden unter Trikots und werden von Gesang übertönt. Man gibt sich der Illusion hin, dass der Fussball alle gleich macht. Dass er Arm und Reich, Jung und Alt vereint.
Darren Miller winkt lachend ab. Wir treffen ihn vor dem Cherry Records Stadium, der Heimstätte des AFC Wimbledon, der in der vierthöchsten Liga spielt. Er sagt: «Die Premier League ist ein Spielzeug für Reiche. Wer den wahren englischen Fussball sehen will, kann das an Orten wie diesem tun. Hier gibt es Bier, Fish'n'Chips und Kick and Rush statt Tiki-Taka.»
Nirgendwo werden so gute Löhne gezahlt wie in der Premier League, die als beste Liga der Welt gilt. Möglich machen das Klubbesitzer aus den USA (Manchester United, Chelsea, Liverpool), aus Saudi-Arabien (Newcastle), den Vereinigten Arabischen Emiraten (Manchester City). Mit Brentford, Tottenham und West Ham sind nur noch drei Klubs in englischer Hand.
Miller verdient das Geld, mit dem er Fish'n'Chips und Bier bezahlt, als Taxifahrer. Er spricht von einem Ausverkauf. Steigende Ticketpreise hätten dazu geführt, dass sich viele hartgesottene Fans in den Stadien der Premier League nicht mehr willkommen fühlen. Er sagt: «Zuschauer sind dort nur noch Dekoration für die TV-Bilder und etwas Stimmung.» Miller zeigt sich überzeugt davon, dass die Atmosphäre bestimmt bald mit künstlicher Intelligenz simuliert werden könne.
Diesem Zynismus wohnt zwar ein gerüttelt Mass Kulturpessimismus inne, unbegründet ist das aber nicht. Die Premier League ist eine Geldmaschine. Nicht weniger als 11 der 20 umsatzstärksten Vereine der Welt kommen von der Insel, 7 Milliarden setzt die Liga jährlich um, 4 Milliarden entstammen alleine aus dem Verkauf der TV-Rechte, wie die neusete Rangliste «Football Money League» des britischen Beratungsunternehmens Deloitte zeigt.
Ticketverkäufe tragen lediglich 15 Prozent zum Umsatz bei. Anders als in der Schweiz sind diese Einnahmen für die Premier-League-Vereine also bloss ein netter Zustupf. Das Publikum vor Ort ist verzichtbar.
Für viele schlägt das Herz des englischen Fussballs deshalb schon längst nicht mehr im Stadion, sondern dort, wo sich Holz und über die Jahrzehnte verschüttetes Bier zu einem unverkennbar herben Duft vermengen: im Pub.
Welche Rolle spielt der Fussball in jenem Land, das sich 2020 mit dem Brexit aus der Europäischen Union verabschiedet hat, was einer Umfrage zufolge zwei Drittel der Briten inzwischen als Fehler betrachten? Ein Land, das sich aussenpolitisch auch nach der Auflösung des «British Empire» als Weltmacht verstand? Das im Brexit eine Emanzipation und nicht eine Isolation von Europa sah? Und das sich als Mutterland des Fussballs betrachtet?
«Fussball und Bier sind unsere Droge», sagt David Robson, möglicherweise nicht ganz uneigennützig, während er am Zapfhahn steht, um Thompson das vierte Pint auszuschenken. Wenn man die beiden diskutieren hört, könnte man meinen, das Pub sei eine Oase der Glückseligkeit. Ein Ort, an dem vereinbar wird, was unvereinbar scheint. Wo Arm und Reich, Jung und Alt, Brexiteer und Remainer zusammen lachen, trinken, debattieren.
Robson mag masslos übertreiben, wenn er sagt, das Pub sei für ihn, was das Stadion sein sollte. Der Ort, an dem sich die britische Seele verdichtet und der gemeinsame Nenner der Fussball ist, von dem BBC-Experte Gary Lineker sagte, es sei ein einfaches Spiel: «22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach und am Ende gewinnen immer die Deutschen.»
Der inzwischen 63-jährige Ex-Stürmer hatte diesen Satz 1990 in Italien formuliert, als England im WM-Halbfinal an Deutschland gescheitert war – 3:4 im Penaltyschiessen, nachdem Lineker die «Three Lions» mit einem Tor zehn Minuten vor dem Abpfiff in die Verlängerung gerettet hatte.
Gerade einmal fünf Jahre alt war Lineker, als Englands Männer 1966 zum einzigen Mal Weltmeister wurden. Trotzdem oder gerade deswegen singen die englischen Fans unentwegt: «It's coming home». Im Gegensatz zu den meisten Fussballliedern versprüht der Refrain aus dem Lied «Three Lions» keinen grenzenlosen Optimismus, sondern zelebriert das Scheitern, wenn es heisst: «So viele blöde Witze, so viel Spott. Jeder scheint zu wissen, was Sache ist. Sie sind so sicher, dass es England wieder versemmelt.»
Seinen Ursprung hat der Refrain im Jahr 1996, als England mit der EM zum ersten Mal seit der WM dreissig Jahre zuvor eine Endrunde ausrichtete. Inzwischen steht er für die ungestillte Sehnsucht des ganzen Landes nach der Rückkehr eines Pokals ins «Mutterland des Fussballs».
Bewerkstelligen soll das ausgerechnet Gareth Southgate, seit 2016 Trainer der Nationalmannschaft. Bei der EM 1996 hatte der heute 53-Jährige im Halbfinal gegen Deutschland den entscheidenden Elfmeter verschossen. Obschon er die Mannschaft vor drei Jahren in den EM-Final geführt hatte, geniesst er nach den biederen Auftritten an den Europameisterschaften noch etwa so viel Rückhalt wie zuletzt Rishi Sunaks konservative Tories.
Während sich die britischen Medien im Vorfeld des Viertelfinals kaum mit dem Gegner beschäftigen, haben die Gäste im «Prince of Wales» durchaus Respekt vor der Schweiz. «Granit Xhaka ist der beste Spieler dieser EM», sagt einer. «Während unser Spiel auf der individuellen Klasse von Jude Bellingham und Harry Kane beruht, überzeugt die Schweiz als Einheit», sagt ein anderer. Und Thompson sagt: «Ja, wir haben Angst vor euch.»
Also zerschellt der Traum der Engländer diesmal an den Schweizern? «Nein, natürlich nicht», sagt er: «It's coming home!» Da ist sie wieder, die Sehnsucht nach der alten Grösse – in der Welt und im Fussball.