«Vereinslos seit 2018»: Das oberste Google-Suchergebnis für Michael Bolvin lässt darauf schliessen, dass dessen Zeit im Fussballgeschäft längst zu Ende ist. Jugendausbildung bei Fortuna Düsseldorf, ein kurzes Intermezzo im US-amerikanischen College-Fussball, dann das Karriereende – so sieht der gescheiterte Traum vom Profi-Goalie aus.
Doch die Geschichte von Michael Bolvin, der sich lieber Mike nennt, ist eine andere. Obwohl ihm für die Bundesliga ein paar Zentimeter und die Reife fehlten, wie er selbst sagt, wird er heute auf der Strasse erkannt und von Kindern um Fotos gebeten. Bolvin ist wohl der erste, mit Sicherheit aber der erfolgreichste Goalie-Influencer der Schweiz. Auf Instagram folgen ihm eine halbe Million Fans. Auf Youtube sind es 1,3 Millionen. Und auf Tiktok 7,7 Millionen – einmal die ganze Schweiz.
Eines der neusten Videos auf Mike Bolvins Youtube-Kanal: ein Einblick ins Goalietraining des FC St.Gallen. «Als ich Zigi einen Penalty parieren sah, wusste ich: Mit ihm will ich drehen», sagt Bolvin. Über Zigis Berater kam der Kontakt zustande, der FCSG lud Bolvin im April zum Training ein.
Auch wenn Bolvin schon mit grösseren Vereinen gearbeitet hat, war er vor seinem Besuch im Kybunpark «wirklich sehr nervös» – einerseits wegen des Stadions, andererseits wegen des prominenten FCSG-Goalies. Zigi sei «ein kranker Torhüter», sagt Bolvin, und: «Er hat an der WM gegen Ronaldo gespielt, da war es für mich eine Ehre, mit ihm zu trainieren.»
Lawrence Ati Zigi war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen, dafür schreibt FCSG-Mediensprecher Remo Blumenthal: «Mike zeigt in seinen Videos, dass er ein guter Keeper ist. Somit konnte der FC St.Gallen ihn optimal ins Training einbauen und musste nichts nachstellen.»
Er erhofft sich vom Video «einen tollen Einblick in die Arbeit der Torhüter und in die Infrastruktur des FC St.Gallen 1879 für die eigenen Fans». Auf den eigenen Kanälen ausgespielt werde es aber «erst zu einem späteren Zeitpunkt» – Influencer-Videos und Resultatkrise vertragen sich schlecht.
Am Tag nach einem Dreh mit Servette-Torhüter Jérémy Frick fährt Bolvin in einer silbernen Limousine und mit seiner Mutter auf dem Beifahrersitz auf dem Sportplatz Tüfi in Adliswil vor. Hier tschuttet Bolvin in seiner Freizeit – von der er allerdings wenig hat. Er sagt: «Ich arbeite jeden Tag, sonst wird mir langweilig.»
Beim Jonglieren auf dem Kunstrasen erzählt Bolvin von früher. Er ist in einer kleinen russischen Stadt geboren, mit neun nach Deutschland gezogen und schon damals zwischen den Pfosten gestanden – «ich war zu faul zum Laufen». Seine Trainer sahen das Talent, beförderten ihn in immer bessere Teams.
Als es nach der U19 bei Düsseldorf nicht mehr weiterging, machte Bolvin seinen Traum vom Ausland wahr und zog mit einem Stipendium für das Queens College nach New York. Dort versuchte er ein zweites Mal, Profi zu werden. Aber nicht lange.
Bolvin stellte erste Trainingsvideos ins Netz, erschien immer seltener im Unterricht. Das war 2017, Bolvin damals 21. Er brach das College ab und wohnte von da an bei Freunden auf der Couch. Immerhin: Auf den sozialen Medien stellte sich bald der Erfolg ein. Bolvin sagt: «Ich habe die verrücktesten Bälle gehalten, und ich habe vor der verrücktesten Kulisse trainiert. Die Skyline von Manhattan hat meine Videos wirklich besonders gemacht.»
Bolvins Problem: Mit seinen Videos verdiente er zwei Jahre lang keinen Dollar. Er hatte zwar die finanzielle Unterstützung seiner Mutter, die unterdessen in die Schweiz gezogen war, aber er wollte mehr. Weil er zur selben Zeit mit der Qualität und dem Preis seiner Goaliehandschuhe haderte, gründete er Gripmode. Die ersten 200 Paar seiner eigenen Handschuhe waren innert 24 Stunden ausverkauft.
Mittlerweile ist Gripmode ein Familienunternehmen mit Sitz in Adliswil, Bolvins Mutter und sein Stiefvater sind Vollzeit eingestiegen. Über die Marke generiert Bolvin den grössten Teil seines Einkommens, der «im mittleren fünfstelligen Bereich» pro Monat liegt. Zusätzlich profitiert er von der Monetarisierung seiner Youtube-Videos – pro 1000 Klicks verdient Bolvin vier Euro, seine besten Videos haben über eine Million Aufrufe.
Weniger einträglich ist Tiktok, dafür nutzt Bolvin die Plattform als effektives Marketing-Instrument. «Während Corona ist mein Tiktok explodiert», sagt er. Innerhalb eines Jahres hat Bolvin fast vier Millionen Fans gewonnen, mit den meistgeschauten Clips erreicht er 20 bis 30 Millionen Menschen.
Logisch, dass Bolvin so zu einer Persönlichkeit unter Jugendlichen geworden ist. Während er auf dem Fussballplatz Bälle fängt und für Fotos seine knallgelben Handschuhe in die Kamera streckt, beobachten ihn zwei Buben, vielleicht zwölf Jahre alt. Ob er mit ihnen tschutten könne, fragen sie Mike, und er verspricht: «Am Abend bin ich wieder hier.»
Früher sei ihm die Aufmerksamkeit unangenehm gewesen, sagt Bolvin, und: «Ich war ein kleiner Junge aus Russland und plötzlich einer der grössten Torwart-Influencer der Welt.» Unterdessen hat er sich daran gewöhnt, ignoriert die Hasskommentare und freut sich über positive Rückmeldungen:
Mit der Präsenz auf den sozialen Netzwerken hat sich Bolvin selbst im Profigeschäft einen Namen gemacht. Sein Vorbild Yann Sommer hat er schon persönlich getroffen, und vor drei Jahren erhielt er eine Nachricht von Manuel Neuer, einem der besten Torhüter der Gegenwart. Er folge ihm auf Instagram und hole sich in den Videos Inspiration für sein eigenes Training, schrieb Neuer Bolvin. Und Bolvin sagt: «Das war eine kranke Bestätigung für das, was ich mache.»
Zuletzt ist Bolvin kurzfristig für einen Tag nach Madrid geflogen, um dort mit dem Weltmeister Rodrigo de Paul, aktuell bei Atlético Madrid unter Vertrag, zu drehen. Bolvin grinst, wenn er daran zurückdenkt, und sagt: «Der hat Messi nackt gesehen, stell dir das mal vor!»
Bolvin ist zwar «dankbar» dafür, dass er sein Hobby zum Beruf machen konnte und dass er bei der Arbeit Länder und Kulturen kennen lernen kann. Zugleich zeigt der Kurztrip nach Spanien aber die Nachteile seines Influencer-Lebens auf.
Eigentlich wohnt Bolvin seit drei Jahren in Adliswil. Wirklich zu Hause verbracht hat er davon höchstens eines. «Ich lebe in Hotels», sagt er. Zwischen Flughäfen, Fussballplätzen und der Fabrik in Asien, die seine Handschuhe produziert, führt Bolvin ein einsames Leben. «Ich habe zwar Millionen Follower, aber abends sitze ich manchmal trotzdem allein im Hotelzimmer.»
Die wichtigste Bezugsperson in Bolvins Leben war schon immer seine Mutter Elena. Während des Interviews ist sie in der Nähe, widerspricht ihrem 27-jährigen Sohn, macht Fotos. Als Mike das College abbrach, hinterfragte sie, damals alleinerziehend, die Erziehung und versuchte, ihn umzustimmen, denn: «Was er auf Social Media gemacht hat, habe ich nicht so ernst genommen.»
Dass die Bedenken umsonst waren, ist wohl auch ihr zu verdanken. Bolvin sagt: «Wenn ich keinen Bock hatte, konnte sie mich motivieren.»
Trotzdem und obwohl es sich seine Fans wünschen würden: Der späte Wiedereinstieg ins Profigeschäft ist für Mike Bolvin derzeit keine Option. Er sagt: «Man kann sich nicht vorstellen, wie viel Druck dahinter steckt.»
Bolvin ist überzeugt, dass er gut genug wäre, um in der zweiten Liga, «vielleicht bei Aarau», mitzuspielen. Aber: «Ich müsste alles aufgeben, was ich mir in den letzten fünf Jahren aufgebaut habe. Und das würde mir sehr schwer fallen.»
Deshalb hat sich Bolvin andere Ziele gesteckt. Er will mit Gripmode zur Nummer eins im europäischen Goaliehandschuhmarkt werden, vielleicht einmal mit Messi und Ronaldo drehen. Und, weil man seiner Meinung nach gross träumen sollte: «Ich will der erste Mensch sein, der auf dem Mond einen Ball fängt.» (aargauerzeitung.ch)