Wie gut ist Raphael Wicky als Trainer wirklich? Es ist noch nicht allzu lange her, da wurde diese Frage in der Fussball-Schweiz ziemlich heftig diskutiert. Im letzten Sommer hat er bei YB als Chef übernommen. Mit dem klaren Auftrag, die Berner wieder an die Spitze zu führen.
Gekommen ist Wicky mit der Referenz, ein smarter Fussballlehrer zu sein, der seine Spieler sehr gerne in Entscheidungen miteinbezieht und ein gutes Gespür dafür hat, wie ein Team zu führen ist. Nur sind eben auch leise Zweifel mitgeschwungen, weil Wicky zuvor noch keinen Titel als Trainer von Profis geholt hat. Die Erinnerung an das Kapitel FCB war noch präsent. Unter Wicky wurde der FCB in der Saison 2017/18 nach jahrelanger Dominanz erstmals nicht mehr Meister.
Nun hat Wicky in dieser Spielzeit die Young Boys souverän zum Meistertitel manövriert. Dass es ihm dabei gelungen ist, fast alle Spieler bei Laune zu halten, obwohl seit September keine Spiele im Europacup mehr anstanden, ist durchaus bemerkenswert. Allzu viel Euphorie ist um dieses Meister-YB trotzdem nicht ausgebrochen. Dafür ist das Kader schlicht zu gut, die Überlegenheit im Vergleich zur Konkurrenz zu gross. Zum Ende der Saison rechnete die «Berner Zeitung» Wicky noch einmal vor: In diesem Jahrzehnt gab es nur einen einzigen Meister, der eine schlechtere Ausbeute hatte als das YB der Saison 2022/23, nämlich der FCB Ausgabe 2012/13.
Man kann YB durchaus kritisieren für teilweise mittelmässige Leistungen. Aber eines sollte man dabei nicht vergessen: Wenn es wirklich zählte, liessen die Berner ihre Muskeln fast nach Belieben spielen. Nie wurde das deutlicher als im Cup-Halbfinal gegen den FC Basel. Dank diesem 4:2-Sieg steht YB nun also im Final.
Und plötzlich hat Wicky die Chance, als erst dritter Trainer der Geschichte den Verein zum Double zu führen. 1958 gelingt das Trainer Albert Sing. 2020, in der Coronasaison, Gerardo Seoane. Wenn YB am Sonntag gegen Lugano den Cupfinal gewinnt, wird aus einer sehr ordentlichen Saison eine sehr gute Saison.
Und wie sieht das der Chef selbst? «Ich finde, der Ausgang des Cupfinals wird die Definition unserer Saison nicht beeinflussen. Wir haben eine fantastische Saison gespielt. Darauf dürfen wir jetzt schon stolz sein. Schliesslich waren wir vor einem Jahr in der Meisterschaft mit ziemlich viel Rückstand Dritter und haben über 50 Gegentore bekommen. Da ist also eine ziemliche Entwicklung sichtbar.»
Nachfrage: Werden Raphael Wicky die Leistungen von YB in dieser Saison zu wenig gewürdigt? «Nein, ich bin da ziemlich relaxed. Jeder und jede darf eine Meinung zu uns haben. Ich mache den Job nicht, um irgendjemandem etwas zu beweisen. Sondern aus Liebe zum Fussball. Und kann ganz gut selbst einschätzen, ob wir gute Arbeit abliefern.»
Die Frage ist nun, ob es YB zum Abschluss der Saison noch einmal gelingt, auf den Punkt eine grosse Leistung abzurufen. Eine solche wird es gegen einen wohl erneut aufgepeitschten Titelverteidiger Lugano brauchen. Wicky ist das bewusst: «Aber ich habe in diesem Jahr sehr viele tolle Charaktere kennengelernt. Ich bin sicher, dass niemand in der Kabine sitzt und denkt: ‹Hey, wir sind der Meister, spielen im heimischen Stadion – jetzt hauen wir die einfach weg.›»
Die wohl entscheidende Frage ist, ob es YB gelungen ist, den Spannungsabfall nach dem vorzeitigen Meistertitel Ende April wieder aufzufangen. «Vier Wochen einfach Ferien machen und dann meinen, auf Knopfdruck wieder bereit zu sein – das geht nicht», sagt Wicky. Er ist selbstredend zuversichtlich, die Zügel genug früh angezogen zu haben.
Der Sonntag könnte ein grosser Tag werden für ihn. Wie das ist, zu jubeln bei einem Cupfinal im Wankdorf, weiss Wicky bestens. Als Spieler gewann er den Cup mit dem FC Sion zwischen 1995 und 1997 dreimal in Serie. Und schon zuvor war er als Kind 1986 und 1991 auf den Rängen dabei, als Sion triumphierte. Nun ist er bereit, eine weitere Erfolgsgeschichte zu schreiben. (aargauerzeitung.ch)