Wahrscheinlich hat Jürgen Klopp schon das Telefon in die Hand genommen. Welcher andere Fussballprofi wäre denn ein glaubwürdigeres Aushängeschild für seine Red-Bull-Klubs als Jamie Vardy?
Der 38-jährige Engländer ist alles, ausser gewöhnlich. Das zeigt sich nur schon beim Blick auf seine Gewohnheiten an Spieltagen, die jedem Ernährungsberater den Aloe-Vera-Smoothie in den Adern gefrieren lassen. Wenn Jamie Vardy am Matchtag aufsteht, beginnt der Tag mit Red Bull – noch vor dem Frühstück seiner Kinder. Danach: Kaffee, Omelett, nochmal Red Bull. «Ich habe mich daran gewöhnt», meint Vardy. «Das ist vielleicht nicht für jeden, aber für mich funktioniert’s.»
So schräg sein Ritual, so beeindruckend seine Bilanz. Diese Form der Matchvorbereitung führte Jamie Vardy bis in die englische Nationalmannschaft. Sie machte ihn bei Leicester City zur lebenden Legende: 198 Tore gelangen ihm bis heute. Der Klub bezeichnet Vardy in der Mitteilung zum Abgang Ende Saison als «grössten Spieler der Vereinsgeschichte».
Eine Million Pfund bezahlte der damalige Zweitligist 2012 für den Stürmer, der bei Fleetwood Town auf Torejagd ging. Der Transfer war nicht nur ein riskantes Geschäft, weil das ein Klub der fünften Liga war. Sondern auch deshalb, weil Vardy zu jenem Zeitpunkt schon 25 Jahre alt war und nie in die Nähe von professionellem Fussball kam, seit er als 16-Jähriger bei Sheffield Wednesday ausgemustert wurde.
Zwischenzeitlich musste er – auch auf dem Fussballplatz – eine elektronische Fussfessel tragen. Vardy war verurteilt worden, weil er in eine Kneipenschlägerei verwickelt war. Ausserhalb der vier professionellen Ligen Englands schoss er trotzdem Tore wie am Fliessband. Doch würde ihm das auch in höheren Ligen gelingen?
Und wie. Jamie Vardy packte die späte Chance, die sich ihm bot. Nach einer Saison Anlaufzeit war er im zweiten Jahr mit 16 Treffern massgeblich am Aufstieg Leicesters in die Premier League beteiligt. Dort hielten die «Foxes», an Weihnachten noch Letzter, mirakulös die Klasse, sie galten aber vor der Saison 2015/16 als Abstiegskandidat. Heute weiss man, dass die Wettquote für den Meistertitel von Leicester City 5000:1 betrug – weil das Unmögliche eintraf.
24 Tore schoss Jamie Vardy in jener Saison. Er war eines der wichtigsten Puzzlestücke von Trainer Claudio Ranieri beim sensationellsten Triumph eines Aussenseiters in der Neuzeit des Fussballs. Vardy und seinen Kollegen gelang nichts anderes als ein Märchen. Er selber wurde zu Englands Fussballer des Jahres ausgezeichnet, Nationalspieler war er bereits ein Jahr zuvor geworden. Sieben Tore erzielte er in 26 Länderspielen.
Leicester City hielt er stets die Treue, obwohl es bestimmt nicht an anderen Angeboten mangelte. Doch Vardy wusste, was er am Klub hatte, der ihm die Möglichkeit gab, ein erfolgreicher Profi zu werden. In der Saison 2019/20 wurde er mit 33 Jahren zum ältesten Torschützenkönig der Premier League.
Nun, nachdem der zweite Abstieg in die Championship innert drei Jahren feststeht, verlässt Jamie Vardy den Klub nach 13 Jahren. Mitte Mai gegen Ipswich Town wird er sein letztes Heimspiel bestreiten. «Jamie ist einzigartig. Er ist ein besonderer Spieler und ein noch besonderer Mensch», lobte ihn Klub-Boss Aiyawatt Srivaddhanaprabha. «Er geniesst meinen tiefsten Respekt und ich bin unendlich dankbar für alles, was er diesem Fussballklub gegeben hat.»
Vardy sprach in einem Video von «13 unglaublichen Jahren mit vielen Erfolgen und einigen Tiefs, aber es gab wesentlich mehr Hochs». Unter anderem gewann er nebst dem Meistertitel auch den FA Cup 2021. «Es ist nun an der Zeit, mich zu verabschieden. Ich bin am Boden zerstört, aber ich denke, es ist der richtige Zeitpunkt.» Leicester werde immer einen grossen Platz in seinem Herzen haben.
Goodbye to the GOAT 🐐 pic.twitter.com/romej28Kbr
— Leicester City (@LCFC) April 24, 2025
Von einem Rücktritt will Jamie Vardy indes nichts wissen. Es handelt sich lediglich um den Abschied von «seinem» Klub. «Ich möchte weiter spielen und das tun, was mir am meisten Spass macht: Tore schiessen. Ich mag 38 Jahre alt sein, aber ich habe immer noch den Wunsch und den Ehrgeiz, mehr zu erreichen.»
Bis Ende Saison kann er noch zwei Meilensteine erreichen. Aktuell steht er bei 198 Toren in 496 Spielen für Leicester City – die vielen Red-Bull-Büchsen hat niemand mitgezählt. Klar, dass 200 und 500 die «schöneren» Zahlen wären. Fünf Spiele hat Jamie Vardy noch Gelegenheit, die beiden Marken zu erreichen. Aber selbst wenn er sie verpassen sollte: In Leicester wird er auf Lebzeiten und darüber hinaus eine Legende bleiben.