N. Y. P.
Er ist ein feiner Mensch. Keine Frage. Wenn er den Spielern aber den Tarif nicht durchgibt, dann kommt das nicht gut.
Es sind entscheidende, ja sogar schicksalhafte Tage im Ausland. Für das Gesamtprojekt Schweizer Nationalteam. Für seine Spieler und ihr angezähltes Selbstverständnis, weil Anspruch und Wirklichkeit bisher so jämmerlich weit auseinanderliegen. Für Trainer Vladimir Petkovic und die Bewertung seines Schaffens, weil gerade die EM dafür der richtige Ort ist.
Zweimal hat der «Mister» sein Team an Grossanlässen bislang in die Achtelfinals gecoacht. Aber für ein Arbeitszeugnis – auch nur als Zwischenbilanz seiner bislang siebenjährigen Amtszeit – wird kein Spiel so sehr in die Bewertung fliessen wie jenes gegen die Türkei am Sonntag. Es geht in diesem Duell auch um seine Weiterbeschäftigung als Nationaltrainer.
Bei einem Scheitern in den Gruppenspielen würde in der Öffentlichkeit wie wohl auch intern unweigerlich diskutiert, ob es mit ihm über den Sommer hinaus trotz Vertrag bis Ende 2021 weitergehen soll. Und darf.
Der Mensch funktioniert so. Vergangenes Positives geht schnell vergessen, ist flüchtig. Vergangenes Negatives aber bleibt haften, und ganz am Schluss zählt nur das Jetzt. Petkovic sagte nach dem 0:3 gegen Italien: «Jeder von uns hat Fehler gemacht. Wir waren alle nicht auf unserem hundertprozentigen Level.» Gerade beim Nationaltrainer ist es essenziell, dass er in den knapp 90 Stunden seit der Niederlage sein absolut höchstes Level gefunden hat.
Doch so wenig Zeit für die Formsuche hatte er noch nie. Vielleicht ist es Zeit genug, um sich nicht mehr in Menschenrechtsfragen und abermaligen Medienkritiken zu verlieren. Sondern darauf zu fokussieren, wie man diese Türken besiegt und was es dafür alles braucht. «Der Coach hat ein paar Stunden gebraucht, um die Enttäuschung zu verarbeiten», sagt Manuel Akanji, «danach fand er den Fokus schnell wieder.»
Die Auftritte gegen Wales und Italien bewiesen: Weder Petkovic noch seine Mannschaft sind in einer guten Verfassung. Dabei kennt er die Optimierung seiner Leistungsfähigkeit nur zu gut. 2014 fand er nach der Amtsübernahme und zwei Niederlagen zum Auftakt in der EM-Qualifikation seine Form, mehrmals wechselte er danach den Sieg ein. 2016 spürte er sie nach einer miserablen Vorbereitung und Stimmung rechtzeitig vor der EM auf. 2018 begann er an der WM gut, aber mit einem Tunnelblick, was ihn dazu verleitete, spätestens mit dem Serbien-Sieg in einen schlechten Modus zu geraten.
Petkovic ist in der Schweiz ein Mensch aus der Mitte der Gesellschaft. Und hier wollte er auch immer akzeptiert sein: in der Mitte der Gesellschaft. Das Problem ist nur, dass er das nie geschafft hat, auch wenn er sich noch so bemühte. Petkovic blieb stets ein Nationaltrainer aus der Distanz, sympathisch zwar, aber eben nicht für jeden.
Es wäre deshalb eines nachvollziehbar: Dass er für sich nach diesem Turnier die Reissleine zieht, weil er von alldem genug hat und müde wie traurig ist. Weil er die Dinge um die Nationalmannschaft und ihre Spieler nicht mehr nah bei sich haben möchte. Weil er keine Spurensuche mehr über sich und seine Herkunft ergehen lassen will, wie dies die NZZ getan hat. Weil er keine Erzählungen mehr von Weggefährten aus der Vergangenheit lesen will, wie sie das Fussballmagazin «Zwölf» gefunden und beschrieben hat. Damit er aus dem öffentlichen Interesse entrückt, es könnte für ihn eine Erlösung sein.
Die Reissleine ziehen, das würde in Petkovics Fall bedeuten, dass er nach der EM zurücktritt und eine neue Herausforderung sucht. Bei einem Klub seiner Gunst, und bei dem auch er in der Gunst steht. St.Petersburg soll um den Tessiner buhlen, wie viel Wahrheitsgehalt an diesem Gerücht ist, bleibt offen. Gewiss, eine schöne Stadt. Aber es müsste ja nicht gleich das ferne Russland sein, auch wenn Petkovic des Russischen mächtig ist seit der Kindheit in Sarajevo.
Es ist möglich, dass sowieso alles ganz anders kommt. Dass die Schweiz doch noch in die Achtelfinals kommt und Petkovic mit seinen Spielern der Turnaround gelingt. Und alle in der K.-o.-Runde über sich hinauswachsen. Es kommt ja erstens immer anders. Und zweitens als man denkt. Besonders an Tagen der Entscheidung.